Leander und die Stille der Koje (German Edition)
Arbeitslosen, mit denen er dort täglich konfrontiert war. Deshalb hatte bereits nach dem Frühstück für ihn festgestanden, dass er heute die renaturierten Flächen aufsuchen wollte, von denen er am Vortag in der Zeitung gelesen hatte. Wenn er da keine spektakulären Fotos machen konnte, wo dann?
Sein Termin bei Ronnie Lange war einerseits hilfreich gewesen, weil ihre heilenden Hände bei der Osteopathie seinen Kopf wieder frei gemacht hatten, aber die erhoffte Auskunft hatte er von ihr nicht erhalten. Von dem Verein Elmeere hatte sie zwar schon einmal etwas gehört, aber wo deren Flächen lagen, konnte sie nicht sagen. Auch von einer Naturerlebnisstation oder einem Andelhof wusste sie nichts, und einen Günter Wiese kannte sie schon gar nicht.
Aber so schwer konnten diese unter Wasser stehenden Wiesen ja wohl nicht zu finden sein; er musste halt nur systematisch die Marschwege abradeln. Und das auch erst im Bereich des Midlumer Vorlandes, denn dort, das hatte ja in der Zeitung gestanden, lag der Hof direkt am Deich. Sein Fahrrad war besser als beim letzten Mal, er hatte den Vermieter gewechselt, nachdem der letzte ihm bei seiner Beschwerde auch noch blöd gekommen war. Heute hatte er auch keinen Gegenwind, und so machte das Radfahren direkt Spaß. An Stelle der Angst vor dem Mörder war er geradezu von Übermut beseelt, so heldenhaft erschien ihm der Einsatz für sein Hobby. Den Abstecher zur Boldixumer Vogelkoje verkniff er sich allerdings.
Angesichts des herrlichen Wetters und der glänzenden See verfiel Baginski bald schon in jenen Gesang, der ihn so auszeichnete. Gaby Baginskys Hit Der Rum von Barbados schien ihm angemessen, um die Atmosphäre dieses Sommertages zu transportieren. Wenig später schmetterte er Heut geht die Post ab , wechselte kurzzeitig zu Männer dürfen weinen , als er an einem der Gatter hängen geblieben war und sich beim Abstieg über den Lenker übel weh getan hatte, versicherte sich aber bald schon: Ich kann wieder lachen und war gerade mitten in dem tiefgründigen Song Mañana, mi amor , als sich ein altbekannter wehmütiger Gedanke zurückmeldete: Warum nur hatte Heinz Baginski nicht dereinst auf sein Herz gehört und eine Karriere als Schlagersänger angestrebt, anstatt in der Arbeitsagentur zu versauern?
Bei diesem Gedanken zog es ihm den Boden unter den Füßen, respektive den Rädern, weg, so dass er mit seinem Fahrrad heftig schwankte. Baginski brauchte einen Moment um zu begreifen, dass sich der breite Asphaltweg in Höhe des Vorlandes vor ihm inzwischen in zwei Gittersteinreihen zerlegt hatte, die kurz darauf in unebene Platten wechselten. Die Schläge, die er nun in den Rücken bekam, waren selbst bei seinem guten Fahrrad so heftig, dass er nach dem nächsten Überweg Ausschau hielt. Das konnte und musste er nicht ertragen! Da wären die Erfolge der osteopathischen Anwendungen ja in wenigen Minuten beim Teufel. Zum Glück tauchte einige hundert Meter vor ihm eine der schrägen Deichquerungen auf. Heinz Baginski beschloss, diese Ausfahrt zu nehmen und auf der Deichinnenseite weiterzuradeln, zumal er nun erkannte, dass gleich ohnehin endgültig Schluss war, denn hundert Meter vor ihm wurde der Deich aufgestockt. Alles war aufgebaggert und aufgeschüttet, da war kein Durchkommen mehr.
Baginski strampelte den Weg hinauf auf den Deich, was ihn ziemlich aus der Puste brachte. Oben verschaffte er sich zunächst einmal einen Überblick und den nötigen Atem zum Überleben. Er stand direkt vor dem Midlumer Marschland. Punktlandung! Doch wohin er auch blickte, gab es grüne Wiesen und mit Mais bestandene Äcker – weit und breit keine Wasserflächen. Nun gut, vielleicht lagen sie ja auch inmitten anderer Felder und wurden so seinem Blick entzogen. Immerhin gab es in Sichtweite verstreut liegende Bauernhöfe, und einer davon musste ja die Naturerlebnisstation Andelhof von diesem Wiese sein. Man musste eben alle abradeln, so einfach war das.
Baginski machte sich auf den Weg deichabwärts, ließ das federbewehrte Tiergatter diesmal ohne Zwischenfall hinter sich und radelte zwischen den Maisfeldern hindurch. Rechter Hand erkannte er gleich zwei Höfe. Um die zu erreichen, musste er mehrfach abbiegen, denn die Wirtschaftswege verliefen entlang der verschachtelten Feldgrenzen. Der erste Hof war ein gewöhnlicher Bauernhof und lag auch nicht direkt am Deich, also konnte es nicht der gesuchte Naturerlebnishof sein. Von Bauern, Knechten, Landarbeitern oder dergleichen war nichts zu sehen,
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