Leander und die Stille der Koje (German Edition)
scheint er mir zu labil zu sein. Ich glaube, er würde die Last einer solchen Tat gar nicht aushalten. Und du?«
»Ich weiß es nicht. In der Verzweiflung sind Menschen zu vielen Dingen fähig, die man ihnen sonst nicht zutraut. Die Arbeit für Elmeere hat immerhin sein glückliches Familienleben zerstört«, überlegte Lena, legte sich zurück in den Sand und schloss die Augen. »Lange dürfen wir hier nicht bleiben, sonst verbrennen wir uns total.«
Etwa um dieselbe Zeit, als Lena und Dieter Bennings die Sonne am Strand von Utersum genossen, bog Günter Wiese kurz vor dem Tiergatter am Deichfuß auf einen Hof, der verwüstet wie ein Truppenübungsplatz aussah und mit einem Naturerlebnishof so viel gemein hatte wie eine Kieler Hochhaussiedlung mit einer Schrebergartenanlage. Es gab kein Pflaster, nur Schotter und Ziegelreste in tiefen, wassergefüllten Schlaglöchern, und überall lagen Berge von Baumaterial und Erde herum.
»Sieht chaotisch aus, was?«, kommentierte Günter Wiese das Schweigen Leanders und lachte.
Der stieg aus und blickte sich etwas reserviert um. Ein Wall versperrte den Blick auf das dahinter liegende Land. Rechter Hand erstreckte sich eine große Scheune mit der Giebelrichtung zur Straße, also von seinem Standort aus quer zu den Besuchern. Dahinter öffnete sich ein kleiner Hof, der von geklinkerten Reihenhäuschen begrenzt war.
»Das sind unsere Ferienhäuser«, erklärte Wiese. »Wenn Sie erst mal die ganze Anlage gesehen haben, werden Sie feststellen, dass das hier für Naturliebhaber ein Paradies ist. Kommen Sie!«
Leander bezweifelte, dass sich seine Vorstellung vom Paradies mit der von Wiese deckte.
Der Naturschützer ging voran, aber nicht hinüber zur Scheune, sondern vor dem Wall nach links, an einem kleinen Teich vorbei, neben dem eine riesige rostige Seetonne herumlag, und dann in eine Art Hohlweg zwischen aufgeworfenen Erdwällen. Dort stießen sie auf ein Wellblechgewölbe in der Form einer Nissenhütte. Wiese schob den einfachen Riegel in der Blechtür hoch und führte sie in die Dunkelheit, die daher kam, dass man im Slalom um zwei zueinander versetzte Trennwände herumgehen musste, die jeweils halb in den Raum hinein ragten. Dahinter lag ein etwas größerer Raum im Dämmerlicht. Rechts stand ein einfacher Campingtisch mit einem Klappstuhl, geradeaus erblickte Leander in der Stirnwand Sehschlitze, die mit Holzklappen verschlossen waren und nur noch schmale Lichtstreifen durchließen.
Wiese legte den Finger auf die Lippen und schlich auf die Sehschlitze zu. Vorsichtig entfernte er zwei Holzklappen und deutete durch die von Tarnnetzen verhängten Luken.
Leander trat ebenso vorsichtig näher und spähte hindurch. Was er nun sah, war tatsächlich ausgesprochen ungewöhnlich. Vor ihnen erstreckte sich eine Wasserlandschaft wie vorhin auf den renaturierten Flächen in der Marsch, nur viel näher jetzt, quasi direkt vor seinen Augen. Überall erblickte Leander Vögel, die durch den sumpfigen Morast staksten und in schneller Folge ihre Schnäbel hineinstießen, um sie gleich darauf mit Würmern wieder herauszuziehen.
»Flussuferläufer«, flüsterte Günter Wiese. »Und dort drüben ist eine Gruppe Bekassinen. Dahinten, sehen Sie die schwarz-weiß-roten Gänse? Das sind Brandgänse. Die drei Kleinen hier vorne sind Sandregenpfeifer, die etwas größeren Vögel sind Steinwälzer. Schauen Sie nur, wie sie jeden Stein umdrehen und darunter nach Futter suchen. So nah kommen Sie sonst niemals an die Tiere heran. Diesen Unterstand können Sie beliebig betreten und wieder verlassen, ohne die Tiere zu stören. Haben Sie vorhin die alte Seetonne draußen gesehen? Die bauen wir zurzeit um, und dann habe ich vor, sie mitten in der Fläche zu versenken. Peter Hering, ein Freund und ein begnadeter Naturfotograf, wird dann von da aus Fotos machen können, wie man sie sonst niemals hinbekommt. Im Moment grübeln wir aber noch über die Frage nach, wie wir den Zugang zu der versenkten Tonne gestalten sollen.«
Leander spürte die Begeisterung des Mannes und ließ sich angesichts des Schauspiels vor seinen Augen davon anstecken. Allmählich bekam er einen Eindruck davon, was an Wieses Arbeit so faszinierend war. Die Flächen in der Marsch waren sehenswert, sicher, aber der Aufwand war ihm doch bis vor einigen Minuten noch etwas übertrieben vorgekommen. Nun sah er mit eigenen Augen, dass diese Wasserflächen außerordentlich reichhaltige Biotope waren.
»Wenn Sie wollen, können Sie diesen
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