Leander und die Stille der Koje (German Edition)
Unterstand jederzeit nutzen«, flüsterte Wiese weiter. »Sie müssen nur alles wieder gut verhängen. Und passen Sie auf, dass Sie nicht zu nah an die Sehschlitze herangehen. Sobald Ihr Gesicht das Licht reflektiert, flüchten die Vögel, und dann dauert es, bis sie sich wieder herantrauen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen nun das Herzstück dieser Anlage.«
Er schob die Holzklappen vorsichtig vor die Sehschlitze und führte seinen Gast durch den Tunnel zurück ins Freie. Nun standen sie wieder vor dem Wall, der die Wasserflächen wirklich komplett abschirmte. Günter Wiese lief an seinem Auto vorbei und hinüber zur Scheune.
»Stopp!«, sagte er plötzlich vor dem Tor. »An dieser Stelle muss ich Ihnen ausdrücklich verbieten, mir zu folgen. Man hat mir Führungen auf den Aussichtsboden untersagt und mir hohe Geldstrafen angedroht, falls ich gegen die Auflagen verstoße. Wenn Sie jetzt also hinter mir her kommen, nehmen Sie an keiner Führung teil. Sie machen das ausdrücklich gegen mein Verbot und aus eigenem Antrieb. Ob ich Sie deswegen allerdings anzeige, muss ich mir noch überlegen.«
Günter Wiese grinste verschmitzt und öffnete das Vorhängeschloss am Scheunentor. Dann betrat er, gefolgt von Henning Leander, das Innere des Gebäudes. Vor ihnen schwang sich eine breite Holztreppe mit hohem Geländer zum Heuboden hinauf.
»Wir haben vor Jahren mit dem Ausbau begonnen, bis dann schließlich der Antrag für die Naturerlebnisstation abgelehnt wurde. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Geld das hier alles verschlungen hat. Meine Frau und ich wären daran fast pleite gegangen. Nur der Zuspruch der Gäste, die unsere Ferienhäuschen und Wohnungen mieten, hat das Schlimmste verhindert.« Sein Gesicht färbte sich dunkelrot und nahm einen verkniffenen Ausdruck an. »Verdammte Mistkerle!«
Wiese lief voran die Treppe hinauf, schwenkte auf dem Heuboden nach links und folgte einer weiteren Treppe noch eine Etage höher. Nun befanden sie sich unter dem hohen Scheunendach. Der Giebel, der auf die renaturierte Fläche hinaus wies, war durch großflächige Fenster geöffnet und bot einen spektakulären Ausblick über die Insel. Hier standen mehrere Stative mit Spektiven bereit.
Leander machte winzige Vögel in der großen Fläche aus und nutzte eines der Geräte, um sie näher zu betrachten. Während er langsam über das Areal schwenkte, erblickte er auf der Nachbarweide den grünen Bauwagen, direkt an der Grenze zu den renaturierten Flächen. »Ist das der Wagen der Jäger, den Sie mir gestern auf den Fotos gezeigt haben?«, erkundigte er sich und wies mit der rechten Hand hinüber.
»Genau. Wenn man das in natura sieht, wirkt es fast surreal, was?«
»Die Dreistigkeit der Jäger ist jedenfalls kaum zu fassen«, stimmte Leander zu. »Warum filmen Sie es nicht einfach, wenn von dort aus geschossen wird, und geben die Beweise an die Staatsanwaltschaft?«
»Bislang hatte ich noch kein Glück, aber ich behalte die Sache im Auge, da können Sie sicher sein. Mit Hilfe der Technik hier werde ich sie eines Tages erwischen, und das scheinen die Typen zu ahnen. Deshalb passiert hier am Hof auch viel weniger als draußen an den Flächen in der Marsch, die nicht videoüberwacht sind.«
Wiese deutete auf eine schmale Treppe zu einer Plattform direkt unter dem Dachfirst und zu einer Dachluke mit Glaskuppel, die breit genug war, um einen Mann mit seinen Ausmaßen hindurchzulassen. »Da oben ist die Dachkamera installiert. Dort drüben am PC kann ich sie steuern.«
Wiese schaltete den Monitor ein und machte damit den Blick direkt in die renaturierte Fläche frei. Mit einem Joystick zoomte er die Wasservögel so nah und gestochen scharf heran, dass sie im Großformat in allen Einzelheiten betrachtet werden konnten. »Diese Technik hat mich ein Vermögen gekostet«, gestand er. »Schauen Sie sich nur um. So einen Ausblick bekommen Sie sonst nirgendwo.«
»Wie war die Anlage denn ursprünglich geplant?«, erkundigte sich Leander.
Günter Wiese deutete mit der rechten Hand weiträumig um sich. »Hier oben sollte eine Beobachtungsstation entstehen, verbunden mit einer groß angelegten Dokumentation. Unten und draußen im Hof wollten meine Frau und ich ein Café betreiben. Von dem Gewinn dieses Betriebes hätten wir schon lange weitere Flächen renaturieren können und wären heute viel weiter, als wir es jetzt sind.«
»Und da hat Ihnen Nahmen Rickmers einen Strich durch die Rechnung gemacht?«, hakte Leander nach.
Günter
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