Leandra - Die Amazonenprinzessin (German Edition)
Baumstumpf, und Leandra löste das Seil vom Henkel. Vorsichtig zog sie daran, um den Strick von der Winde zu lösen. Zum Glück befand sich die Winde im guten Zustand und knarrte nicht. Noch einmal sah Leandra sich um, dann ging sie zum Baum und kletterte hinauf. Sie knotete das Seil um einen Ast und ließ sich in die Gasse runter. Das war geschafft. Die Gasse endete in der breiten Hauptstraße, welche geradewegs zum Palast führte. Leandra war erleichtert, es waren keine Personen mehr unterwegs, trotzdem ging sie in die entgegengesetzte Richtung. Die hohe Palastmauer hätte sie nicht überwinden können. Sie kannte jedoch einen unterirdischen Gang außerhalb der Stadt. Weil die Tore von Tehu bewacht waren, sprang sie in den Kanal, der die Stadt mit Wasser versorgte, und schwamm bis zur Mauer, wo ein Gitter den Weg nach draußen versperrte. Wie viele Menschen wussten wohl, dass das Gitter nicht ganz bis zum Grund reichte? Leandra holte Luft, tauchte hinab und schwamm durch den Spalt. Sie war froh, als sie auf der anderen Seite wieder aus dem Wasser steigen konnte. Tagsüber war es angenehm, nachts dagegen waren die Flüsse ziemlich kalt.
Die Prinzessin ging weiter. Vor sechs Jahren hatte ihre Mutter ihr den Geheimgang gezeigt, er war unter Gestrüpp verborgen, und abgestandene Luft schlug ihr entgegen. Leandra ließ sich in Öffnung gleiten und hörte, wie Ratten vor ihr flohen. Obwohl sie keine Angst vor den Nagetieren hatte, empfand sie einen heftigen Ekel. Hier sollte man ein paar Katzen auf die Jagd schicken, aber Königin Neria kümmerte sich nicht um die Pflege des Geheimganges. Allein die Vorstellung, sie könnte von einem Feind flüchten, empfand ihre Mutter als lächerlich.
Der Gang endete, und Leandra befand sich im Garten des Palastes. So sollte ein Garten aussehen , dachte die Prinzessin. Die Amazonen hatten fast alles, was als weiblich galt, abgelegt. Nur ihre Großmutter hatte diese Tradition nicht beachtet und diesen Garten anlegen lassen. Selbst in der Nacht verströmten die Rosen einen herrlichen Duft, und im Tageslicht war die Farbenpracht schön anzusehen. Hör auf zu träumen , ermahnte Leandra sich. Die Gemächer des Sehers Enos lagen im Erdgeschoss auf der rechten Seite. Eins der Fenster stand offen, so bereitete es ihr keine Schwierigkeiten, hineinzukommen, doch sie war vorsichtig. In diesem Zimmer schlief Enos stumme Dienerin Lara. Leandra wusste nicht, ob es nötig war, leise zu sein, denn diese schnarchte laut, und sie fragte sich, wie Enos jemals Schlaf fand. Sie schlich zur Tür und öffnete sie. Dunkel lag der Raum vor ihr, aber das hatte nichts zu bedeuten. Ein Blinder brauchte kein Licht, und die Prinzessin wusste, dass der Seher oft in der Nacht wach war. Vielleicht hatte sie Glück und störte ihn nicht.
„Enos“, flüsterte Leandra, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Warte, ich zünde die Kerze an.“ Die Stimme klang hellwach, und wenig später erhellte Licht das Gemach. Der Seher saß am Tisch, auf dem neben Kerze und Karaffen auch zwei unbenutzte Gläser standen.
„Hast du auf mich gewartet?“, fragte die Prinzessin.
„Ja, möchtest du Wasser oder Saft?“
„Saft.“ Leandra setzte sich und beobachtete, wie Enos, ohne etwas zu verschütten, das Glas füllte und zu ihr hinüber schob.
„Wie geht es dir, Leandra?“
Sie trank einen kleinen Schluck.
„Ich habe in der letzten Nacht einen eigenartigen Traum gehabt.“
Der Seher nickte.
„Der ganze Tempel ist vom kriegerischen Wesen der Göttin durchdrungen. Erinnerst du dich an den Traum?“
„Nur verschwommen. Mit den anderen knie ich vor Isens Statue. Plötzlich öffnen sich die Türen und ein Schwarm Krähen fliegt herein. Es sind so viele, dass alles um mich herum schwarz ist. Dann verschwinden die Krähen, und ich sehe, dass alle Amazonen tot am Boden liegen.“ Leandra biss sich auf die Unterlippe. „Enos, ich glaube, ich werde versagen. Selbst in einem Kampf werde ich keine Menschen töten können.“
Unglücklich sah die Amazonenprinzessin Enos an, doch er lächelte.
„Die Göttin Endora hat dich erschaffen. Es ist der Fehler der Menschen, wenn sie nicht die Bestimmung ihrer Kinder erkennen können. Deine Mutter ist eine Kriegerin, du nicht.“
Der letzte Satz fuhr wie ein Dolchstoß in Leandras Herz, und sie wich zurück.
„Hast du das in der Zukunft gesehen?“
„Hör gut zu, denn ich spüre, dass der Tag meines Todes nicht mehr fern ist. Ja, ich fühle, wie er sich nähert.“
Betroffen
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