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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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Pulswärmer, Modeschmuck oder Wandbehänge eigenhändig fabriziert – vieles landet ohnehin auf dem Speicher
oder im Keller –, aber der Wunsch sich zu entfalten, gerät zu kleinen vorgegebenen Fluchten und wird im Zeitplan der Freizeitkurse wieder eingebunden in Gehorsam. Zwar schafft solche Art braver Bastelkurse keine Konflikte, aber Kreativität fügt sich nicht in Gehorsamskultur. Sie will entdecken, erfahren, was über uns selbst hinausführt. Wir wollen Neues erleben, und nicht eine Neuauflage der alten Zurichtung auf harmlose, häusliche Nützlichkeiten. Wir wollen wirklich kreativ sein und nicht nur »ein bisschen« mit zwei Stunden pro Woche. Älterwerden heißt, sich um Wichtiges zu kümmern, auszubrechen aus der Spezialerotik, wie die Frauenforscherin Christina Thürmer-Rohr meint, die sich möglichst auf ein männliches Individuum, auf die Kinder, aber nicht auf die Welt bezieht. Wäre es nicht befreiend, dieser organisierten Kreativität ein Schnippchen zu schlagen, Wolle, Stoffe und Nadeln in die Ecke zu schmeißen, um endlich eigensinnig und widerspenstig Größeres anzugehen. Um das zu schaffen, was einen in ein sinnliches Verhältnis zu sich und zur Welt bringt, und um schöpferisch zu sein – aber eben nicht nur häppchenweise.
    Dabei denke ich an eine Frau, die während eines Praktikums ihre Leidenschaft für den Weinbau entdeckte. Fast verschämt erzählte sie von ihrer neuen Leidenschaft. Ihre Augen blitzten, dass man förmlich spürte: Sie geht mit Lust und Liebe an ihre Sache. Trauben und Weinbau sprechen etwas ganz tief in ihr an. Solch befreiende Leidenschaft gilt es zu ehren, weil sie einen Menschen trägt. Wann immer wir etwas tun, was für uns stimmig ist, reagiert unsere Seele mit Begeisterung – genau mit der Energie, die unsere Vorhaben unterstützt.
    Berührungen mit diesem Feuer können wir täglich erleben: Wenn wir ein Cellokonzert hören, eine Sandburg bauen, die Musik eines fallenden Regentropfens hören oder
beim Waldspaziergang tagträumen. Wo sind wir? In der reinen Kontemplation? In der Welt des konkreten Verhaltens und Handelns? Weder noch. Wir befinden uns in dieser eigenartigen Welt zwischen Innen und Außen, in der sich Realität und Fantasie, Wirklichkeit und Illusion miteinander vermischen. Musiker nennen diesen Bereich gern – voreilig oder nicht – eine bessere Welt. Diese Welt der Vorstellungskraft meine ich, die wir – auch nach Erkenntnissen der Kreativitätsforschung – am ehesten finden, wenn wir selbst wahrnehmen und uns diesen betulichen Angeboten oder Grüppchen mit einer Haltung kritischer Distanz verweigern.
    Warum brauchen wir gerade in dieser Etappe den Sinn für das Spielerische, die eigenständige Fantasiewelt? Warum ist das, was wir an Nützlichem tun, nicht schon alles? Kreative Wahrnehmung lässt uns das Nicht-Käufliche, das Nicht-Greifbare erleben: das, was uns fehlt, wenn wir alles haben. »Ich brauche das Gefühl, dass mein Leben vollständig bleibt. Ich mag es nicht zulassen, dass dieser wichtige Bereich herausbricht. Da sind Sachen drin, die würden Erfolgsmenschen banal nennen – Krokusse wachsen sehen, am Strand laufen, Gedichte schreiben, am Klavier träumen. Ich ertrage das Altern nur, weil ich angeknüpft bin an dieses ›Andere‹, das mich stark macht. Dann weiß ich plötzlich, in mir ist so viel.« So die Beschreibung einer Unternehmensberaterin, die sich vom »Müssen« gelöst hat und Freiräume für ihre sogenannte andere Welt geschaffen hat.
    Im Alter, wenn die Zwänge des Alltags sich lockern, wird es Zeit, sich vom einträglichen Diktat karriereförderlichen Nutzens zu verabschieden und sich nach dem »Anderen« umzusehen. Der Sehnsucht danach begegnen Therapeuten tagtäglich bei ihren Patienten, die sich nicht abgestumpft, resignierend der äußeren Realität anpassen wollen. »Trotz allem, was ich erdulden muss ... bleibt immer noch dies:
meine Freude, die Freude des Künstlers, die Dinge wahrzunehmen und daraus im Geist ein eigenes Bild gestalten.« Diese Aussage wurde sogar im Angesicht des bevorstehenden Todes gemacht. Sie stammt aus dem Tagebuch von Etty Hillesum (1914-1943), die sie vor ihrem Abtransport nach Auschwitz notiert hat. Unter Aufbietung sämtlicher innerer Kräfte hielt sie bis zuletzt die eigene schöpferische Wahrnehmung aufrecht, mit der sie die brutale Realität ihres Lebens im Konzentrationslager verwandelte und überschritt.
    Das Beuyssche »Jeder ist ein Künstler« könnten wir für uns so

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