Lebe deine eigene Melodie
Kriegskosten, die uns abverlangt werden, wenn die Symptome uns im Griff haben. Unsere Geduld wird auf die Probe gestellt. Wir werden übelgelaunt, griesgrämig und hadern mit dem Schicksal. Warum gerade jetzt? Warum trifft es ausgerechnet mich?
Krankheiten zwingen uns in die Knie. Wir können zwar versuchen, so zu tun als ob und sie geflissentlich ignorieren. Aber sie sind gewissermaßen stärker, weil der Körper über Geist und Willen herrscht und nicht umgekehrt. Wer seine Körperbotschaften ernst nimmt und zu hören versteht, der horcht auf. Denn nun bekommen wir die wichtigste Lektion des Lebens: Wir lernen, uns in Endlichkeit einzuüben. Bisher haben wir vielleicht gelebt, als seien wir ewig haltbares Konserven-Gut. Wir haben den Gedanken verdrängt, dass alles auch ganz anders kommen könnte, dass es abwärts gehen kann. Erst dann, wenn Gesundheitseinbußen uns zwingen und wir an unsere Grenzen stoßen, werden wir wachgerüttelt. Nicht mehr abgefedert durch Illusionen und Geschäftigkeit, berühren wir jetzt den Boden der Realität, und nun ändert sich die Optik.
Schon in der Antike beschäftigte man sich mit diesem allzu menschlichen Phänomen. Der römische Schriftsteller Seneca schrieb in seiner berühmten Schrift De brevitate vitae : »Leben muss man das ganze Leben lang lernen und, worüber du vielleicht noch mehr staunst, das ganze Leben muss man lernen zu sterben.«
Lernen zu sterben? Ein großes Wort. Aber Krankheit – der kleine Vorgeschmack des Todes im Leben – kann es uns lehren. Und mehr noch! Wer nicht mehr wie gewohnt nach
außen agieren kann, nicht mehr ins Kino, ins Fitnessstudio, ins Restaurant gehen, oder nicht einmal mehr fernsehen kann, der richtet die Scheinwerfer gezwungenermaßen nach innen. Womöglich geschieht dieser Blick nach innen erstmalig im Leben. Vielleicht steht man erst einmal betroffen da und erschrickt. Oder es melden sich Menschen aus der Vergangenheit, an die man schon lange nicht mehr gedacht hat. Oder man sieht sich plötzlich selbst, und die verschiedenen Kinder in einem melden sich: das Blumen pflückende Mädchen, die lausbübische Göre, die Anführerin in der Schulklasse, die Leseratte. Oder eine alte Geschichte, die man jahrelang verdrängt hatte, steht plötzlich vor einem, so wie sie tatsächlich war. Ist es die Seele, die sich da entlasten und reinigen will, damit man wieder leichteren Schrittes weitergehen kann? Oder ist man offener oder gar mutiger geworden und will sich nicht länger schonen? Etwas in unserer Seele lässt uns nicht friedlich werden, ehe wir nicht hingeschaut haben auf das, was unser Leben wirklich ist oder war. Man muss Zwiesprache mit sich halten, weil die Seele keine Ruhe gibt, ehe wir nicht nochmals hingeschaut haben. Man kann es sich von der Seele sprechen oder schreiben. Und man kann sich auch damit abfinden, dass es Dinge gibt, die nicht wiedergutgemacht werden können, die unwiederbringlich, die nicht heilbar oder lösbar sind. Es liegt an jedem von uns, aus dieser inneren Begegnung eine heilsame Begegnung und aus dem Erschrecken einen heilsamen Schrecken zu machen. Um zu begreifen, dass letztlich alles, was uns zustößt, eine Ressource ist. Selbst wenn die anderen fragen: Wozu das? Kann man das Vergangene nicht einfach ruhen lassen? Verdräng doch lieber! Kann man nicht einfach vergessen? Nein, man kann es nicht.
Was sind schon ein paar abgesagte Termine, wenn man durch eine erzwungene Pause zu besonderen und eigensinnigen
Einsichten gelangt, die die eigene Seele befreien. Zeit zum Sinnieren, zum Fühlen, zum Träumen, zum Lesen. Zeit, die uns leichter macht, weil wir nicht alles sein müssen. Oder Zeit, um mit blockierten Lebenswünschen in Kontakt zu kommen, wie die Ärztin, die nach dem Schrecken einer Brustkrebsdiagnose, sich endlich fragen konnte, wie sie eigentlich wirklich leben will. Das Meer war Teil ihrer Kindheit, jahrzehntelang vermisste sie es und entschied sich nun dafür: »Jetzt oder nie!« Bis heute empfindet sie diesen Schritt als größte Bereicherung ihres Lebens, weil ihr das Leben am Wasser die Weite schenkt, die sie braucht, um nochmals zurückzublicken auf das, was ihr Leben bis dahin war.
Eine Freundin, die gerade von einer Lungenentzündung regeneriert, sagt: »Früher hätte ich das locker weggesteckt. Jetzt weiß ich, das Alter hat angeklopft.« Wir lachen zwar, aber nicht so unbekümmert wie früher. Was hatten wir früher nicht alles an Krankheiten, Missgeschicken, Verlusten, Kränkungen relativ
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