Lebe deine eigene Melodie
nichts erwartet, für den sind alle Überraschungen ausgeschlossen.
Immer noch grassiert die Meinung, kreatives Potenzial versiege nach der Lebensmitte. Das Gegenteil ist der Fall. Man denke an Picasso, der wohl das umfangreichste Alterswerk bildender Künstler hinterließ – sage und schreibe 72 Gemälde und 80 Radierungen) –, oder Salvador Dali, der bis ins hohe Alter äußerst kreativ war. Auch eine Reihe Komponisten ließen sich nennen: Heinrich Schütz, Georg Philipp Telemann, Georg Friedrich Händel, Joseph Haydn, Franz Liszt, Anton Bruckner, Giuseppe Verdi. Unter den Dichtern herausragend Johann Wolfgang v. Goethe, der mit 82 Jahren seinen Faust vollendete, oder Theodor Fontane, Henrik Ibsen, Ricarda Huch, Ina Seidel. Treffend drückte George
Bernard Shaw dieses Altersphänomen aus: »Meine körperlichen Kräfte lassen mich im Stich ... dennoch hat mein Geist immer noch die Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln, denn meine Neugierde ist lebhafter denn je ...«.
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Zumindest zeigt sie, dass auch in Zeiten, in denen die Lebenserwartung weit unter der heutigen lag, erstaunlich kreatives Potenzial und lange geistige Vitalität im Alter möglich waren. Es scheint sogar, dass Kreative eine höhere Lebenserwartung haben als Fernsehsesselmenschen. Diese kompetenten Alten blieben jung, wie Shaw es so treffend beschrieb, weil sie neugierig waren und weil Kreativität, wenn sie nicht narzisstisch eingeengt benutzt wird, immer auch sozialen Sinn hat.
Kreative kriegen ihre Lebenselixiere kostenlos, weil sie malen, schreiben, tanzen oder musizieren. Wir alle haben Kompetenzen, die keine Altersgrenzen kennen. Auch wir können neugierig in Bewegung bleiben und das tun, was uns und anderen nützt. »Ich habe fast jeden Tag versucht, etwas zu schreiben, gute Musik zu hören, etwas Neues zu kochen, jemandem eine Gefälligkeit zu tun, andere Wege zu gehen und vor dem Einschlafen zu lesen«, sagte eine Freundin, die auf die Neunzig zugeht. Gut denken, neugierig bleiben, etwas Gutes bewirken, immer wieder Neues versuchen, das scheint wohl das Geheimnis zu sein, das uns geistig wach hält. Damit wird das Schöpferische zu etwas, das sozialen Sinn hat, also nicht etwas nur Innerliches ist, wie das in romantischen Vorstellungen gesehen wurde, sondern vom Zusammenwirken mit anderen und mit den Dingen der Welt lebt. Es gibt noch Orte, wo man es erleben kann, dass man abends zusammensitzt, sich Geschichten erzählt oder zusammen singt. Jedes Mal, wenn ich an solch einem »Lagerfeuer-Abend« teilhabe, spüre ich: Wir brauchen einander. Zusammen sind wir stärker. Das geht nur, wenn wir
nahe beieinander bleiben, oder wie die Kinder sagen: »zusammenhalten«. Dann macht Kreativität glücklich.
Leider ist vielen der Freiraum für Kreativität abhanden gekommen, trotz guter Vorsätze und echtem Bemühen, sei es durch die Normen der Schule, des Studiums oder durch Nahestehende, die einem die Neugier und das Selbstvertrauen ausgetrieben haben. In den Jahren kommen noch negative oder falsche Vorstellungen vom Altern oder Vorurteile hinzu, die die schöpferische Produktivität Älterer lähmen.
Geht man einmal die sogenannte Anti-Aging-Literatur durch, so fällt auf, dass das Wort »Kreativität« höchstens rudimentär vorkommt. Allenfalls ein bisschen »Mensch-ärgeredich-nicht«, Laubsägearbeiten, häkeln, stricken, Korb flechten, Servietten schnippeln, Kerzen ziehen, aus Märchenbüchern vorlesen, Rätsel raten. Sollen wir denn jetzt alle Lebenserfahrung verplempern und die Zeit gemütlich totschlagen? Und das in einer Etappe, in der nicht mehr so viel Pflichtarbeit anfällt und nicht mehr so viele Menschen an einem hängen? Statt ruhige Kugel, Kreuzworträtsel, Kegeln, wäre es nicht sinnvoller, die frei werdende Fantasie in kreative Aktivitäten zu investieren? Denn nun kann man es sich leisten, anspruchsvoller zu werden, nicht mehr zu wollen, was man zu wollen hat, sich von Zwängen zu lösen, um die Vielfalt der eigenen Person zu entdecken. »Sei nicht so anspruchsvoll«, höre ich die mahnende Stimme, die einen herunterziehen will. Vor betonierten Ansichten oder Selbstzufriedenheit müssen wir aber nicht in die Knie gehen, denn die Möglichkeit, kreativ mit seinen Aufgaben, der Zeit nach dem Beruf, mit sich selbst oder anderen umzugehen, sind für alle gegeben.
Kreativität lässt sich nicht kaufen und auch nicht in Kursen von 18 bis 20 Uhr ausleben. Man eckt zwar nicht an, wenn man
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