Lebe deine eigene Melodie
deuten, dass wir uns Räume schaffen, in denen wir die Wirklichkeit so erleben können, wie Künstler sie erleben. Die Verwirklichung dieser Praxis wäre in der Tat ein Stück Verweigerung der Zumutungen des »kolonisierten Älterwerdens«. Sie käme einer Wiedergewinnung sinnlich-kreativer Wahrnehmung gleich, die uns erlaubt, in jenem Bereich zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu leben, den Winnicott als den »dritten Bereich« kulturellen Lebens bezeichnete. Malen, Handwerk, Schreiben, Musizieren, Lesen hat diese Wirkung. Es geht nicht darum, dass jeder eigene Kunstproduktionen einzubringen hat, sondern um den Mut zum Eigensinn, auf persönliche, eigenwillige Art, auf Vorgefundenes zu reagieren. Das heißt, wir brauchen Spielräume, um eigene Erfahrungsmöglichkeiten aufleben zu lassen von einer Welt, die auch sein könnte. Wir brauchen begehbare Brücken, die den Abgrund zwischen dem Möglichen und dem Zwang der Fakten überwinden. Im eigenschöpferischen Tun wurzelt unsere Kraft zur Sabotage gegenüber einer einseitigen Abrichtung auf Jahreszahlen und Verfallsdaten. Kreativität erlaubt uns die Vorstellung von Freiheit, weil sie uns spüren lässt, dass die Welt auch ganz anders sein könnte. Im Kern geht es um das, was Isaac Stern seinen jungen Geigenvirtuosen immer wieder sinngemäß vermittelte: »Spiele deine eigene Melodie«.
Glück ist, wenn das Unglück aufhört
Glück lässt sich nicht erzwingen, aber man kann bereit sein dafür. Diese Bereitschaft ist in keiner Weise altersbedingt. Man muss die Geschenke nur annehmen können. Leider sprechen viele mehr vom Lebenskrampf als vom Lebensglück. Man fürchtet Krankheiten, Zipperlein und Verluste mehr als den Verlust seiner eigenen Berührbarkeit für Glück. »Auch Glück kann altern«, meint die Schriftstellerin Silvia Bovenschen. In der Tat verändern sich die Vorstellungen vom Glücklichsein mit den Jahren. Man spricht eher verhaltener, abgeklärter, weil man begriffen hat, dass Glück glücklich macht, weil es eher klein daherkommt, und sehr konkret ist. Viele ziehen das Wort »Zufriedenheit« vor, weil das große Glück ihnen jetzt ein paar Nummern zu groß ist. Wir überlassen uns nicht mehr diesen Euphorien und Hochgenüssen. Das laute Glück von Events, langen Partynächten, das Krakeelen in gleichgestimmter Gesellschaft ist einem irgendwie schleichend abhanden gekommen. Dem dicken Kopf am Folgetag als angemessene Sühne dafür, geht man naturgemäß lieber aus dem Weg. Lieber eigenen Wein trinken oder essen gehen, denn dazu ist ja keiner je zu alt.
Im Gegensatz zum jüngeren Menschen wissen wir: Glück ist ein Zustand mit kurzer Halbwertszeit. Glück als Dauerzustand ist ein Widerspruch in sich selbst. Jeder erlebt, so hoffe ich, Momente des Glücks: Überraschungen, Unerwartetes, Unvorhersehbares. Dafür ist man nie zu alt. Dennoch sprechen viele lieber von Zufriedenheit, die eher etwas Vorhersehbares, Behagliches, Dauerhaftes hat. Zufriedenheit ist eine Sache der persönlichen Bewertung, sie hängt ab von der eigenen Wahrnehmung, die bei vielen darauf hinausläuft, gefälligst zufrieden zu sein mit dem, wie es nun mal
ist. »Zufriedenheits-Paradoxon« nennt die Altersforschung dieses Phänomen. Da bewegt sich eine 68-jährige Frau mit fast tänzerischer Anmut, arbeitet bei jedem Wetter im Garten und meint: »Solange ich im Garten wühlen kann, bin ich einfach glücklich. Ich fühle mich wie eine 40-Jährige.« Obwohl sie eine Knieoperation hinter sich hat und ständig Medikamente nehmen muss wegen ihres Bluthochdrucks. Für sie spielen die körperlichen Beeinträchtigungen keine bemerkenswerte Rolle, weil sie ihr Leben als sinnvoll und ausgefüllt erlebt. Diese Abgeklärtheit hat durchaus ihren Charme, aber sie ist eine bewusste Regulation, die sich aus dem Verlust an Energie und Neugier ergibt.
Der Kern der Altersreife, so meint der Weisheitsforscher Paul Baltes, besteht im SOK-Prinzip: Selektion, Optimierung, Kompensation. Der Pianist Arthur Rubinstein erläuterte es so: »Ich spiele weniger Stücke (Selektion). Ich übe diese häufiger (Optimierung). Und drittens spiele ich vor allem schnelle Passagen extra langsam – das lässt die langsamen bedeutungsvoller und die schnellen schneller erscheinen (Kompensation).«
Das Klima des Glücks in den Jahren ist milder, geräuschloser, feinsinniger geworden. Es hat durchaus mit Maß, Mitte, Genuss zu tun, mit dem, was für uns noch bekömmlich ist. Dafür sorgt ohnehin die Vergänglichkeit von
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