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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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lässig überwunden. Nun kommen die ersten Zweifel: Dauert es nicht länger als früher? Werde ich weiter die Widerstandskraft haben, mich zu erholen? Weil man tief innen spürt, dass man zwar gelassener, aber viel dünnhäutiger geworden ist und länger braucht, um wieder auf die Beine zu kommen. Damit muss man fertig werden. Man kann diese Angst miteinander teilen, man kann gegen sie ansingen, anschreien oder anbeten. Oder einfach weitergehen und in Demut und gelassener Heiterkeit damit leben.

Ungelebtes Leben
    Viktor von Weizsäcker hat diesen Begriff vom »ungelebten Leben« geprägt, der in Gesprächen über das Älterwerden eine wichtige Rolle spielt. Ich denke an meine verstorbene Freundin, die immer wieder sagte: »Ich habe gelebt, und ich bin gelebt worden«. Da schwingt Trauriges, Melancholisches, Beunruhigendes, Herausforderndes mit, das einen berührt. Keine Frage: Das Unfertige, Ungelebte, Fragmentarische treibt uns um, vor allem, wenn man begriffen hat, dass die Uhren nicht rückwärts gehen. Im Ungelebten wohnt das Unterdrückte, das Verlorengegangene, die Abstriche, die man machte, aus Mangel an Ressourcen, aus Zeitgründen, oder weil die eigenen Wünsche nicht mit den Ansprüchen anderer zu vereinbaren waren.
    Wir besitzen von klein auf die Fähigkeit, zu fantasieren und tagzuträumen, um unsere ureigenen Wünsche und Ziele besser kennenzulernen. Wer öfter einmal darauf achtet, was ihm so tagsüber durch den Kopf geht, erfährt einiges über seine oft als unvernünftig abgetanen Einfälle, Absichten, Hoffnungen und Wünsche. Ein Kollege sagte zu mir: »Man erfährt alles über einen Menschen, wenn man seine Tagträume studiert.« Die Fähigkeit, sich zeitweise in Tagträume und Fantasien zurückziehen zu können, bringt uns mit tiefen Gefühlen, unbewussten Motiven und geheimen Gedanken in Kontakt. Wir können uns erlauben in dieser Innenwelt sogar gewünschte oder nötige Veränderungen auszuprobieren: »Wie wäre es, wenn ich wirklich aufs Land ziehen würde?« »Wie wäre es, wenn ich wirklich für eine Zeitlang aussteigen würde?« »Wie wäre es, wenn ich diese Geschichte, die mich schon ewig belastet, mir einfach einmal von der Seele rede?« Solche Fantasien gestatten uns, uns
auf die eigenen Lebenswünsche zu konzentrieren, anderes oder besseres Leben auszutesten, einzutauchen in eine Freiheit, in der wir über uns selbst bestimmen können.
    Allerdings sind unsere Wünsche meist nicht so harmonisch einer Meinung, sondern ziehen und treiben uns in verschiedene Richtungen, die oft widersprüchlich oder kontraproduktiv sind. Da gibt es den Wunsch nach luxuriösem Untätigsein, und gleichzeitig keimt die Lust auf frische Tatkraft. Endlich meditieren, Yoga üben, Klavier spielen, und inmitten dieser wunschlosen Hingabe taucht die Vision eines neuen Projektes auf. Endlich in Rente gehen, aber dann hat man ja per Gesetz alt zu sein, also doch lieber noch nicht. Der Nachmittag im Fernsehsessel, wo man sich eingesteht, dass auch Unterhaltsames sehr viel Spaß machen kann, obwohl man Fernsehen doch gerade entrüstet abgelehnt hat. Lauter Widersprüche, so dass man sich fragt, ob es nicht besser sei, nicht mehr zu wünschen und gefälligst zufrieden zu sein, wie es nun mal ist.
    Da man die eigenen Ansichten durch Ratschläge ohnehin nicht mehr nachhaltig erschüttern kann, und schon gar nicht von diesen Titelbildern mit den joggenden und turnenden Senioren, die immer nur mit geweißten, blitzenden Zähnen lächeln, bleibt nur der Rückzug in die eigene Selbstprüfung. Ob es sich um das Französisch handelt, das man endlich lernen will, das Häuschen in der Toscana, den eigenen Gemüsegarten, Klavier spielen wie Rubinstein – Träume und Wünsche sind zwar angenehm, aber sie bleiben im luftleeren Raum, folgt nicht die Vermittlung zwischen Wünschen und Fähigkeiten. Man kann sich noch so sehr wünschen, Pianist zu werden, wenn aber jeder zweite Akkord ein Patzer ist, oder wenn man zwei linke Hände hat, wird wahrscheinlich auch exzessives Üben vergeblich bleiben. Aber man kann sich in die Nähe dieses Wunsches bringen
als Sammler von historischen Klavierkonzerten. Oder als Sänger im Jazz-Chor. Wünsche sind nicht so starr, wie man vielleicht zu meinen glaubt, sie vertragen auch Umwege, Umwandlungen, Umgestaltungen. Das Verhältnis von Wünschen und deren Umsetzung ist verwickelt, zumal man in den Jahren mehr als früher mit der harten Tatsache konfrontiert wird: Es war nur ein Traum. Aber dann

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