Lebe lieber innovativ
Als ich etwa eine Woche später meine Ausarbeitung zurückbekam, stand darüber die Bemerkung: »Tina, du denkst bereits wie eine Wissenschaftlerin!« In diesem Moment wurde ich eine. Ich hatte scheinbar nur darauf gewartet, dass jemand meine Begeisterung erkannte und mir die Erlaubnis gab, meine Interessen weiterzuverfolgen. Wir alle werden von den Botschaften aus unserem Umfeld stark beeinflusst. Manche werden direkt ausgesprochen, etwa wenn ein Lehrer sagt: »Du solltest Krankenschwester werden.« Oder: »Du denkst wie eine Wissenschaftlerin.« Andere sind als indirekte Botschaften in unserem Umfeld eingebettet und prägen uns nachhaltig.
Als ich Anfang 20 war, hatte ich überraschenderweise große Schwierigkeiten zu unterscheiden, was ich für mich selbst wollte und was andere für mich wollten. Ich weiß, dass es vielen meiner Studenten ähnlich geht. Sie berichten mir, so etwas wie »Führung« von anderen zu bekommen und dass sie große Mühe haben herauszufinden, was sie selbst wollen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich manchmal den Drang verspürte, gerade die Dinge aufzugeben oder zu vermeiden,
zu denen mir andere dringend geraten hatten. Ich tat das nur, weil ich genug Raum brauchte, um herauszufinden, was ich eigentlich selbst wollte – und zwar unabhängig davon, was andere für mich wollten. So habe ich zum Beispiel unmittelbar nach meinem Abschluss an der University of Rochester mein Aufbaustudium an der Graduate School der University of Virginia begonnen. Meine Eltern waren begeistert. Sie waren sehr stolz auf mich und beruhigt, dass mein Weg nun für die nächsten Jahre vorgezeichnet schien. Doch nach nur einem Semester an der Graduate School beschloss ich, eine Pause einzulegen und nach Kalifornien zu gehen. Das Schwierigste daran war, meine Eltern von meiner Auszeit in Kenntnis zu setzen. Meine Entscheidung traf sie ziemlich hart. Ich wusste ihre Unterstützung und Ermutigung sehr zu schätzen. Doch beides erschwerte es mir, selbstständig zu entscheiden, ob das Studium wirklich das Richtige für mich war. Ich fuhr relativ planlos quer durchs Land nach Santa Cruz und hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte.
Im Nachhinein betrachtet war es großartig, eine Pause einzulegen. Die Zeit, die ich in Santa Cruz verbrachte, war ohne jede Struktur. Ich fühlte mich wie ein Blatt im Wind – für alles offen und bereit. Das war spannend und beängstigend zugleich. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich keine bestimmte Aufgabe, kein deutlich umrissenes Ziel und kein klares Vorhaben. Obwohl mich dieser Zustand häufig belastete, war es die ideale Methode, um herauszufinden, was ich wirklich wollte. Um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, nahm ich Gelegenheitsjobs an und verbrachte ansonsten viele Tage am Strand mit Nachdenken. Nach einiger Zeit besuchte ich die Fachbibliothek für Biologie an der University of California in Santa Cruz, um mich im Bereich der neurowissenschaftlichen
Literatur auf dem Laufenden zu halten. Anfangs ging ich einmal pro Monat dorthin, dann einmal pro Woche und schließlich jeden Tag.
Nach etwa neun Monaten in Santa Cruz war ich zwar noch nicht so weit, mein Aufbaustudium fortzusetzen, doch ich war bereit, ins Labor zurückzukehren. Mit diesem Ziel vor Augen organisierte ich mir ein Verzeichnis des Lehrpersonals der neurowissenschaftlichen Fakultät der nahegelegenen Stanford University und schrieb jedem Einzelnen einen Brief. Darin schilderte ich meinen persönlichen Hintergrund und fragte, ob sie nicht einen Forschungsjob für mich hätten. Im Laufe der nächsten Wochen erhielt ich von jedem ein Antwortschreiben, doch niemand hatte eine Stelle zu vergeben. Einer der Dozenten hatte meinen Brief allerdings weitergegeben und so erhielt ich einen Anruf von einem Professor für Anästhesie. Er fragte mich, ob ich Interesse hätte, bei ihm im Operationssaal mitzuarbeiten, wo man neue medizintechnische Ausrüstungen bei der Behandlung von Risikopatienten testete. Das erschien mir interessant und ich ergriff diese Chance augenblicklich.
Nur wenige Tage später war ich an der Stanford . Ich war in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, trug OP-Kleidung und überwachte Patienten, die operiert wurden. Diese Erfahrung war in vielerlei Hinsicht überraschend und faszinierend zugleich. Nach Beendigung des Projektes gelang es mir, einen Arbeitsvertrag als wissenschaftliche Hilfskraft in einem neurowissenschaftlichen Labor auszuhandeln und schließlich bewarb ich mich
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