Leben bis zum Anschlag
fragt Maika. »Er hat keine Nachricht hinterlassen.«
Plötzlich vollzieht sich im Mienenspiel und der Körperhaltung der Schwester ein erstaunliches Morphing: von wütend über neutral zu triumphierend. Maika ist klar, dass das Quietschen hinter ihrem Rücken von einem Kerl stammen muss. Dem zur Show getragenen Triumph der Schwester ist zu entnehmen, dass es sich um Herrn Ewald handelt. Also hat ihm die Schwester Bescheid gegeben, als Maika am Dienstzimmer vorbeigegangen ist, und sie hingehalten, bis er kommt. Das bedeutet: Alarm! Herr Ewald will unter allen Umständen mit ihr reden, er will ihr auf die Pelle rücken! Das Gespräch mit Herrn Ewald wird EXTREM/MEGA/ULTRA unangenehm werden.
Maika dreht sich nicht um und sagt freundlich: »Tut mir leid, jetzt muss ich mich beeilen, sonst komme ich zu spät zur Arbeit. Danke. Tschüs.«
»Bitte. Tschüs.« Die Schwester lächelt nicht und quietscht davon.
»Frau Merten«, sagt einer hinter ihr. »Nur ganz kurz!«
Das kann Maika nicht ignorieren und sie dreht sich um. Herr Ewald entspricht genau ihren Vorstellungen von einem Retter in der Not, weshalb sie lieber keinen in Anspruch nehmen will.
»Ja, bitte?«
»Ewald. Kann ich Sie Maika nennen?«
»Gern, Ewald.«
Er lächelt und schüttelt den Kopf. »Das ist mein Nachname.«
»Merten«, sagt Maika. »Ich muss zum Bus.«
»Ich komm ein Stück mit und begleite Sie, Maika.« Tut’s und lächelt sie von der Seite an, als er auf den Schalter für den elektrischen Türöffner drückt.
»Sie wollen mit mir über meine Mutter reden?«
Er entgegnet: »Das war eben ein kurzer Besuch.«
»Ich bin auf dem Herweg aufgehalten worden.« Tausendmal hat sie nach Mao gerufen, hinter Hecken geschaut, Kinder gefragt.
»Es geht nicht nur um Ihre Mutter.«
»Ich denke doch, denn ich bin nicht Ihre Patientin«, widerspricht Maika in aller Ruhe. »Ich komme nur, um meiner Mutter in einem wachen Moment zu sagen, dass sie mich in ihrem Leben nicht wiedersehen wird, wenn sie jetzt keinen Entzug macht.«
Mit ausgestrecktem Daumen steuert Herr Ewald auf den Fahrstuhl zu. »Wenn sie eine Therapie macht, betrifft Sie das auch. Statistiken belegen eindeutig, dass Therapien unter Einbeziehung naher Familienangehöriger bessere Resultate erzielen.«
Maika reißt die Tür zum Treppenhaus auf. Sie wird sich nicht mit Herrn Ewald zusammen in eine Kabine stellen. »Die Krankenhausstatistik über meine Mutter belegt, dass sie in dreizehn Jahren elfmal in der Notaufnahme war. Davon kein einziges Mal nüchtern.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Ewald hastet hinter Maika her.
»Man hat mir elfmal meine suchtkranke, alleinerziehende Mutter und eine Broschüre über die Gefährdung naher Familienangehöriger
im Umfeld von Suchtstörungen mitgegeben. Ich habe mich also im Alter von vier bis sechzehn Jahren bestens informieren können.«
»Das klingt verbittert, Maika.«
»Da ist nichts Süßes dran. Das weiß jeder, der nicht komplett verblödet ist.«
Er reagiert nicht auf die Beleidigung, sondern spielt sie zurück. »Dann wissen Sie auch, dass Sie Hilfe brauchen.«
Maika beschließt, sich zusammenzureißen. Anscheinend ist Ewald nicht so blöd, wie er tut. Und das sind erfahrungsgemäß die unangenehmsten sogenannten Helfer. »Danke. Die hab ich.«
»Professionelle Hilfe oder sprechen Sie von Freunden?«
»Sowohl als auch.«
»Bei oder von wem bekommen Sie Hilfe?«
»Wie heißt Ihre Psychologin?«
Im Treppenhaus klappern die Absätze von Maikas Sandalen sehr viel lauter als die Gummisohlen von Herrn Ewald. Staccato, Maika hat ihren Rhythmus gefunden. Die große rote Vier auf der Wand zeigt an, dass sie bis hinunter ins Erdgeschoss noch einen langen Weg mit dem Sozialpädagogen vor sich hat.
»So können wir nicht miteinander reden«, beschwert er sich.
»Herr Ewald, ich muss zu meinem Job. Ich gehe zur Schule, arbeite, lass mir helfen und sorge gut für mich. Aber nicht mehr für meine Mutter.«
»Das klingt sehr entschlossen«, keucht er hinter ihr.
»Sollte sie sich entscheiden, sich nicht mehr totzusaufen, weil es mich in ihrem Leben gibt, dann bin ich auch für sie da.«
»Wir sollten einen Termin …«
»Wozu?« Maika bleibt stehen.
»Die größte Risikogruppe für eine Suchtentwicklung stellen die Kinder von Alkoholkranken dar.«
»Na klasse.« Maika langt es. »Das ist ja was ganz Neues.«
»Das klingt sarkastisch.«
»Bitter, entschlossen, sarkastisch, so klinge ich in Ihren Ohren?« Maika versucht ein lockeres
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