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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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Kinder schliefen
    Noch zwei-, drei-, vier-, fünfmal werden mir neue Gummiringe über die Krampfadern in der Speiseröhre gelegt. Immer wieder wird mir der biegsame Metallschlauch durch den Beißring in die Speiseröhre geschoben. Ich muß diesen Schlauch schlucken, dabei stoße ich auf, Luft entweicht aus dem Magen, und der Würgereiz, der dauernde, nur schwer zu unterdrückende Würgereiz setzt ein. Dann aber, zum Glück, meist auch die Betäubung. Es schläft sich so schön mit Propofol.

72
    Ich schlafe und werde schlafend zurück in mein Zimmer gefahren, ich schlafe mich aus. Abends, aufgewacht aus meinem Narkoseschlaf, sitze ich in dem Aufenthaltsraum mit der Glaswand zum Gang. Ich trinke Wasser aus einem Tetrapack und esse Zwieback, der Zwieback wird in meinem Mund zu einem weichen süßen Brei, der mir schmeckt, als wäre er Manna. Meine Ansprüche sind gesunken, schlucken tut noch weh.
    Während ich mir Zwieback aufs Nachthemd krümle, schaue ich auf den kleinen Fernseher, der auf dem Patientenkühlschrank steht. Ich sehe einen Film, vermutlich von Dario Argento. Hin und wieder geht eine der Schwestern über den Gang, eine von ihnen winkt, irgendwo steht die Tür zu einem Krankenzimmer offen, alle zwei, drei Minuten höre ich ein grunzendes Stöhnen, ein Stöhnen, das erst in ein leises Jaulen, dann in ein Wimmern übergeht. Eigentlich paßt das ganz gut zu dem Film, auch wenn ich ihm nicht wirklich folgen kann. In den Werbepausen schalte ich um zu Halloween Resurrection , ein Patient in einer psychiatrischen Klinik dreht durch und fängt an, die Wärter niederzumetzeln. Die Schreie aus dem Fernseher und das Gewimmer, das über den Flur zu mir dringt, beunruhigen mich nicht. Ich bin noch gar nicht richtig wach.
    Eine große kräftige Frau kommt herein, schiebt ihren Tropfständer in meine Richtung. Ob sie sich zu mir setzen dürfe? Noch bevor ich Ja bitte sagen kann, hat sie schon Platz genommen und erzählt ihre Geschichte. Ich höre ihr zu oder auch nicht, während ich auf den Bildschirm starre, schöne, aufregende, ineinander verlaufende Farben, ich sehe hauptsächlich die Farbe Rot, noch ist Propofol in meinem Blut. Ich höre eine Jammerstimme jammern, sie kommt aus dieser ungetümen Frau, der Riesin neben mir, sie warte, sagt sie, auf ihre zweite Leber beziehungsweise, rechne sie ihre eigene mit, auf ihre dritte. Sie holt weit aus, erzählt von den Nachbarn, die sie nicht mögen, dem Arzt, der sie nicht versteht, und dem Freund, der sie verlassen hat, weil sie so fett geworden ist.
    Außerdem erzählt sie die Geschichte von einem Mann, der seit langem auf eine Niere wartet, zu Hause aus dem Küchenfenster schaut und gegenüber einen Krankenwagen stehen sieht – der Nachbar hat sich umgebracht, erfährt er. Angeblich wird er zwei Stunden später angerufen und darüber informiert, daß es ein passendes Organ für ihn gebe. Seitdem glaubt er, die Selbstmörderniere seines Nachbarn in sich zu haben.

73
    Auf dem Flur nicken wir Patienten uns zu. Wir sind einander morgenmantelbekannt. Ich sehe, was Patienten so am Leibe tragen. Es gibt Privatschlafanzug- und Krankenhausnachthemdträger. Und es gibt Patienten, die in Jogginghosen oder Trainingsanzügen auf oder in den Betten liegen, weil sie jede halbe Stunde rauchen gehen müssen. Nach und nach lerne ich zu unterscheiden, daß es schlechtes Aussehen Richtung Besserung und schlechtes Aussehen Richtung Ende gibt. Mir selbst kann ich leider nicht ansehen, wohin mein schlechtes Aussehen tendiert. Vor dem Spiegel bin ich blind.

74
    Mein neuer Bettnachbar, ein Bauarbeiter, spricht nicht viel. Er war schon oft im Krankenhaus. Einmal, ich weiß gar nicht, warum oder wie ich darauf gekommen bin, sage ich, Krankenhaus sei immer noch besser als Gefängnis. Er stutzt, ich merke, daß er einen Augenblick lang überlegt, dann fängt er an zu erzählen: von seinen zwei Jahren in einem DDR-Gefängnis, eine dumme Geschichte nach einer Schlägerei in der S-Bahn, die ihm und seinen beiden Freunden politisch ausgelegt wurde, zwei Jahre Knast. Zwei Jahre zu dritt in einer Zwei-Mann-Zelle. Ohne Klo, nur mit einem Kübel, der bloß einmal am Tag, abends, geleert wurde. Als er wieder rauskam, kurz vor dem Mauerbau, ging er rüber, ich habe noch Glück gehabt, sagt er, großes Glück. Ein Jahr länger, und ich wäre noch mal achtundzwanzig Jahre eingesperrt gewesen. Er sagt natürlich jewesen .
    Dann hat er als Bauarbeiter angefangen, im Winter auch als Taxifahrer gearbeitet, aber

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