Leben (German Edition)
zu tun, als sei alles gar nicht so schlimm. Indianer kennen keinen Schmerz, hieß es früher, ein Spruch meiner Mutter, stell dich nicht so an, sagte sie genauso gern. Deutscher sein hieß auch Indianer sein, behauptete jedenfalls Heiner Müller – dieses Zitat von ihm hing in Paris, aus einer Zeitung ausgerissen, in der Küche der Wohnung in der Rue des Martyrs, Rebecca hatte es gefunden und mit Tesafilm an den Kühlschrank geklebt.
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Ein Schmerzmittel läuft in mich hinein, was sollte also weh tun? Zusätzlich habe ich die Tropfen, die ich selbst dosieren darf. Alle sechs Stunden lasse ich fünfundzwanzig Tropfen, ach, warum nicht dreißig, dreiunddreißig, in mich hereintropfen, viel hilft viel, und alles wird gut. Sanfte Betäubung legt sich über mich, ein Wundermittel, wirklich, ich schwebe über meinem Bett, ich bin so leicht, ich fliege. Nach und nach lasse ich mir von verschiedenen Schwestern neue Fläschchen geben, bevor die angebrochenen leer sind, ich bunkere sie im Nachtschrank, richtig buchgeführt wird nicht. Ich freue mich auf die Party, die ich eines Tages damit feiern werde.
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Ich kann nicht aufstehen, ich kann nicht gehen, ich kann gar nichts. Im Liegen schaue ich an die Decke, und die Decke schaut zurück. Manchmal starre ich zur Abwechslung die Wand an, und auch die Wand starrt zurück. Mein Bettnachbar schläft, ich höre ihn leise schnarchen.
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Es gibt Leberwurst zum Abendbrot. Ein rundes Metalldöschen mit Foliendeckel liegt auf dem Tablett, ausgerechnet Leberwurst, Leberwurst habe ich schon als Kind nicht gemocht, angewidert schiebe ich die Packung zur Seite. Fünf oder sechs Tage nach einer Lebertransplantation, ist da Leberwurst nicht ein wenig rücksichtslos?
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Leber habe ich noch nie gemocht. Vor ihrem Geruch und ihrer eigentümlichen Konsistenz habe ich mich immer geekelt. Wenn es, meine Großmutter hat das hin und wieder zubereitet, gebratene Leber mit Zwiebeln, Apfelringen und Kartoffelpüree gab, habe ich das Püree gegessen, die Leber aber nicht, die rührte ich genausowenig wie Leberwurst an, diese blaßrosafarbene, oft leicht matschige Masse, die meist in einer weißen oder cremeweißen wachsartigen Pelle steckt. Zum Abendbrot lag sie neben dem Schinken und der Fleischwurst auf dem Drehteller, der in der Mitte des runden Eßtischs stand. Leberknödelsuppe habe ich hingegen, seltsam, immer gern gegessen.
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Ich höre einen Hubschrauber, sehe ihn aber nicht, der Nachthimmel im Fensterausschnitt ist schwarz. Ich höre den Hubschrauber landen, hat er einen Schwerverletzten gebracht? Neue Organe? Er bleibt nicht lange, hebt wieder ab, und ich fliege mit, hänge an seinen Kufen, hoch über der Stadt, und sehe alles von oben, das Klinikum, den Westhafen, die Stadtautobahn und den Flughafen Tegel, wie lange kann ich mich so halten? Lichter, Lärm, Krach, dann wieder Stille, schöne Stille. Es ist so leise im Krankenhaus, ich höre die Wände, was erzählt ihr mir, liebe Wände, ich höre euch flüstern und meinen Bettnachbarn atmen, manchmal gibt es ein Geräusch auf dem Flur, aus der Ferne, ein Geräusch, das die Stille davor vertont. Niemand schreit, keiner stöhnt, alle schlafen.
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Eine Schwester bringt mir das Stationstelefon. B. ist am Apparat, er ruft aus Italien an und sagt, es gehe mir gut. Auf seine Bitte hin, ich habe das wohl verschlafen, hat eine seiner Schülerinnen, Ärztin auf der Nachbarstation, nach mir gesehen. Die Werte, sagt er, seien erfreulich. Es geht Ihnen gut, es geht Ihnen sehr gut. Wie schön, das von ihm zu hören. Jetzt glaube ich es auch.
Er sitzt auf seiner italienischen Terrasse mit Blick aufs Meer. Ich müßte mich vorbeugen, und Vorbeugen fällt mir schwer, um den Kanal zu sehen, den Berlin-Spandauer-Schiffahrtskanal, vielleicht auch einen der mit Kohle beladenen Kähne. Die herangeschipperte Kohle wird später im Kraftwerk Westhafen verfeuert, sie erzeugt den Strom, der hier die Apparate leuchten, blinken und piepen läßt.
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Auf meinem Nachttisch finde ich eine Broschüre, ich weiß nicht, wer die dahin gelegt hat. Ihr farbiges Titelbild zeigt einen Kolbenfüller in halbverschwommener Großaufnahme, einen richtigen Angeberfüller mit Ziselierungen auf der Goldfeder. Die Broschüre, eigentlich bloß ein Faltblatt, heißt «Der Dankesbrief», ich lese:
Wer etwas geschenkt bekommt, hat das Bedürfnis, sich zu bedanken. Ist das Geschenk von so unschätzbarem Wert wie ein lebensrettendes Organ, erscheint vielen Organempfängern
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