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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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meinem Leben und wie es dazu kam, daß sie erst jetzt einen Brief von mir erhielt. Nicht einmal zwei Wochen später lag eine Antwort in meinem Briefkasten. Sie schrieb, sie habe sich gewundert und sehr gefreut, ihre Mutter habe ihr meinen Brief aus ihrer Heimatstadt nachgesendet, sie lebe jetzt in Helsinki, habe eine Katze und arbeite als Verwaltungsangestellte. Obwohl sie damals, sieben oder acht Jahre zuvor, über zweihundert Briefe bekommen habe, sei keine dauerhafte Brieffreundschaft entstanden.

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    Auf dem Faltblatt, ich halte es noch in der Hand, ist nicht von Brieffreundschaft die Rede. Es heißt, ich müßte einen anonymen Brief schreiben und dürfte nichts Persönliches verraten, nichts, das auf irgendeine Weise Rückschlüsse auf meine Identität zuläßt. Wie aber soll ich einen ganz und gar unpersönlichen Brief schreiben? Wäre das nicht ein eigenartiger Brief, wenn ich nichts über mich verraten dürfte? Nicht meinen Namen, nicht mein Alter, nicht den Namen der Stadt, in der ich lebe, vielleicht nicht einmal mein Geschlecht? In diesem Brief müßte ich Mann oder Frau ohne Eigenschaften sein. Und selbst dann wäre es nicht sicher, daß dieser Brief die Angehörigen des Spenders auch erreicht, denn sie, die Hinterbliebenen, dürfen selbst entscheiden, ob sie einen solchen Brief lesen wollen oder nicht. Die Vermittlungsstelle teilt ihnen bloß mit, daß ein Organempfänger geschrieben hat. Und falls sie ihn nicht ablehnen, diesen Brief, sondern lesen – antworten dürfen sie nicht.

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    Aber kann ich einen Brief schreiben, wenn ich schon weiß, daß ich nie eine Antwort bekommen werde? Ich warte doch immer auf eine Antwort, das war als Kind schon so. Ich wartete so sehr, daß ich bereits morgens um Viertel vor sieben, noch im Schlafanzug, kurz vor die Tür trat, um in den Briefkasten zu schauen, weil ich wissen wollte, ob über Nacht vielleicht Post gekommen war. Meine Mutter ertappte mich einmal dabei und fragte, was ich da mache, morgens um Viertel vor sieben im Schlafanzug vor der Haustür. Ich versuchte, mich damit herauszureden, daß ich die Brötchen hätte hereinholen wollen, die allerdings noch gar nicht da waren, der Wagen der Bäckerei, der die Brötchen brachte, kam meist erst gegen zwanzig nach sieben vorbeigefahren, der Beifahrer, ein Lehrling, nur ein paar Jahre älter als ich, hatte die Brötchentüte noch gar nicht auf den oberen Absatz unserer Steintreppe geschleudert. Gegen Mittag, als ich aus der Schule kam, fand ich dann, ich hatte so sehr darauf gewartet, in der Küche einen Brief von Andrea, den sie mir aus Frankreich geschrieben hatte, sie verbrachte ein paar Tage bei ihrer Austauschschülerin. Ganz aufgeregt war ich über den Schluß des Briefs, stand da doch tatsächlich: «Gruß und Kuß Dein» … es folgte, etwas unleserlich, ein Name, den ich nur mit großer Mühe und Phantasie als Andrea entziffern konnte. Nachdem ich den Brief mehrere Stunden lang immer wieder gelesen und geküßt hatte, kam mir der Gedanke, da könnte statt ihres Namens der Name Julius stehen, was grammatikalisch auch besser zu Dein paßte, denn da stand eindeutig Dein und nicht Deine , zudem fehlte das Komma. Wer aber war dieser Julius? Was bedeutet «Gruß und Kuß Dein Julius»? Hatte sie mir nun einen Kuß geschickt oder nicht? Ich war verwirrt.

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    Jahre später, in Paris, die Post kam noch zweimal am Tag, hatte ich zuweilen das Glück, vormittags und nachmittags einen Brief von Rebecca im Kasten zu finden, meist in Umschlägen, die sie aus herausgerissenen Seiten einer Zeitschrift oder dem Programmheft eines Theaters gefaltet hatte, ich machte das nicht anders. Manchmal wüßte ich gern, was wir uns damals geschrieben haben, aber eigentlich reicht es aus, daß es ihre Briefe noch gibt. Sie liegen, zusammengebunden, in einem kleinen Koffer, der auf dem Zwischenboden oder in der Abstellkammer steht. Meine eigenen Briefe hat sie sicher weggeworfen, lange vor ihrem Tod, dabei bin ich manchmal weit gewandert, um ihr einen zu bringen – so, wie ich auf ihre Briefe wartete, wartete sie auf meine, jedenfalls kam mir das so vor. Einmal, noch in Berlin, bin ich nachts gegen halb drei in Charlottenburg losgegangen, am Landwehrkanal entlang, durch den Tiergarten und durch Schöneberg bis nach Kreuzberg, durch den Görlitzer Park und die Schlesische Straße hinunter, über die Oberbaumbrücke, deren Türme damals noch in der Spree lagen, und auf der Friedrichshainer Seite vorbei am alten S-Bahnhof die

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