Leben (German Edition)
ein einfaches «Dankeschön» als zu wenig.
Habe ich das Bedürfnis, mich zu bedanken? Als Kind hatte ich nie große Lust dazu. Immer wurde ich ermahnt, mich bei irgendeiner Tante zu bedanken, selbst wenn es Geschenke waren, die mir nicht gefielen. Mal doch ein Bild, oder schreib eine Karte, höre ich die Stimme meiner Mutter sagen, und dann saß ich vor einem leeren weißen Blatt. Für den Dolch, den ich mir als Neun- oder Zehnjähriger in den Bauch hatte rammen wollen, habe ich mich gern bedankt, in diesem Fall war es ganz leicht, ich malte ein Bild des Dolches, rollte die fertige Buntstiftzeichnung zusammen, band ein Stück Geschenkband darum und klingelte an der Haustür der Nachbarin, die ihn mir aus Marokko mitgebracht hatte, von einem Basar, nahm ich an, auf dem sie auch Zauberpferde und Wunderlampen hätte kaufen können. Für die Zeichnung, die Nachbarin hatte keine Kinder, bekam ich dann Kekse oder Schokolade, genau weiß ich das nicht mehr. Deshalb brachte ich ihr öfter Bilder.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in Deutschland ermöglichen es derzeit nicht, die Identität der Familie des Organspenders zu erfahren. Ein anonymer Dankesbrief ist eine Möglichkeit des Dankes, zu dem wir Sie ermutigen möchten. Der Dank an die Angehörigen des Spenders kann ein wichtiger Schritt für Sie selbst als auch für die Spenderfamilie sein. Für die Angehörigen ist der Erhalt eines solchen Briefes ein ganz besonderes und sehr emotionales Ereignis und wird als Bestätigung aufgefaßt, das Richtige getan zu haben. Ein großer Teil der Spenderfamilien wünscht sich ein solches Zeichen.
Ja? Ich bräuchte erst einmal Briefpapier. Ich müßte in die Schreibwarenhandlung am Amrumer Platz, müßte aufstehen, mich anziehen und das Zimmer verlassen, dann den Flur entlang, am Glaskasten vorbei und durch die Stationstür hindurch zu den Aufzügen gehen, müßte auf einen Aufzug warten, ihn betreten, den Knopf mit dem E für Erdgeschoß drücken und hinunterfahren. Ich müßte mich auf der Mittelallee unter den Kastanien Richtung Haupteingang orientieren, müßte den Hof und die Torhäuser durchqueren, vorbei an dem Blumenstand und der nach Fett stinkenden Imbißbude, müßte durch trostlose Grünanlagen hindurch und über die riesige Kreuzung, die durch nichts verrät, daß sie ein Platz sein will, und schließlich die Tür zur Schreibwarenhandlung öffnen, hinter dem Wendehammer der Triftstraße, ich war schon oft dort, ich liebe dieses Geschäft. Dort könnte ich Briefpapier kaufen und einen neuen Füller, einen dritten, vierten oder fünften Füller, einen, der nicht ausläuft, und mit dem mir, so mein magisches Denken, das Schreiben leichter fallen wird, weil ein neuer Füller sicher etwas zu sagen hat, die Sätze werden aus ihm herausfließen, einfach so.
Bei der Formulierung eines Dankesbriefes entstehen viele Fragen: Darf ich einen solchen Brief schreiben? Werde ich die richtigen Worte finden, um die Gefühle der trauernden Familie nicht zu verletzen? Wohin schicke ich den Brief?
Ich habe schon immer gerne Briefe geschrieben, ich habe eigentlich immer lieber Briefe geschrieben, als zu reden, ja, denke ich jetzt, ich habe immer lieber Briefe geschrieben, als zu sagen, was sich nicht sagen läßt. Einmal ist es schon vorgekommen, daß ich an eine mir völlig unbekannte Frau geschrieben habe, an eine Finnin, das muß im Jahr 1991 oder 1992 gewesen sein. Ich schrieb ihr, weil ich jahrelang eine aus einer Jugendzeitschrift herausgerissene Kleinanzeige aufgehoben hatte, in der stand, daß sie, die Finnin, Brieffreundschaften suche, ihre Hobbys seien sailing, surfing, and reading . Auf dem winzigen, kaum kinderfingernagelgroßen Foto lächelte ein blondes Mädchen mit lockigem Pagenkopf – ich nahm jedenfalls an, daß sie blond war, das Foto war schwarzweiß –, sie lächelte, und ich war mir sicher: Dieses Lächeln meint genau mich. Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt, sie aber schon fünfzehn, ich wußte, schreibe ich ihr jetzt, habe ich keine Chance. Also riß ich die Anzeige aus der Zeitschrift und legte das kleine Stück Papier in eine Schreibtischschublade. Sieben oder acht Jahre später, ich war von zu Hause aus- und ein paarmal umgezogen, räumte ich meinen Schreibtisch auf und stieß auf diesen Zettel, wollte ihn schon wegwerfen, dachte dann aber: Was soll’s, nun habe ich dich, Girl from the North Country , schon so lange aufgehoben, jetzt kann ich dir auch schreiben. Und ich schrieb ihr ein paar Sätze zu
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