Leben (German Edition)
Warschauer Straße hinauf. Eine Nachtwanderung mit Umwegen, nur um in der Boxhagener Straße ein Kuvert in den Kasten zu werfen, eine Nachricht, die sie am Morgen finden sollte, mit dem Vorschlag, wo wir uns am Nachmittag treffen könnten, ein paar Zeilen nur, an denen ich vier oder fünf Stunden gesessen hatte. Die Tür zu ihrem Haus, ihrem damals selbstverständlich unsanierten Haus, stand immer offen, die verrosteten Briefkästen waren erreichbar, klingeln aber durfte ich nicht, sie wohnte ja noch mit ihrem Freund oder Ex-Freund zusammen, es war kompliziert. Als ich wieder in meiner Wohnung ankam, schien die Sonne.
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Mein Bettnachbar, dem der rechte Leberlappen entfernt wurde, kann in der Hitze nicht schlafen. Eines Nachts vertraut er mir an, daß die langjährige Freundin seines Sohns, seine Schwiegertochter in spe, die Frau, die für ihn wie eine Tochter war, sich auf einer Kubareise, einer vorgezogenen Hochzeitsreise der beiden, in einen Kubaner verliebt habe. Sie habe sich sofort, noch dort in der Karibik, von seinem Sohn getrennt und den Kubaner aus Kuba herausgeheiratet. Sein Sohn sei danach etwas ins Trudeln geraten. Heute habe er, Studienrat an einem Gymnasium in Steglitz, ein Verhältnis mit einer verheirateten Kollegin, die Kollegin sei Mutter zweier Kinder. So habe er sich das für seinen Sohn eigentlich nicht vorgestellt, sagt mein Bettnachbar, aber am Ende führe jeder ja sein eigenes Leben.
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Es ist so heiß, daß ich fast nackt unter einem Laken liege. Ich hebe es nicht gerne an – den Bauch, meinen Bauch, den Bauch dieses Körpers möchte ich nicht sehen. Eine der Schwestern hebt es dann an, zieht es weg, und bevor sie ein neues über mich legt – sie schlägt es in ganzer Länge aus und läßt es wie einen sehr flachen Fallschirm auf mich niedersinken –, sehe ich es doch, dieses Etwas, das sich unterhalb meines Brustkorbs in die Haut gekrallt hat, sieht aus wie ein riesiges schwarzes Insekt. Sind so große Insekten nicht längst ausgestorben?
Das riesige schwarze Etwas ist die mit schwarzem Faden vernähte Wurst aus Haut, die sich vom unteren Ende des Brustbeins bis zum Nabel zieht und dort in zwei weitere Hautwürste teilt, die schräg nach unten Richtung Beckenknochen verlaufen. Wunden auf Gemälden habe ich mir immer gern angesehen, aber das? Zwei Plastikschläuche ragen rechts aus mir heraus, genau dort, wo ich als Kind immer Seitenstechen hatte, wenn ich zu schnell gerannt bin oder beim Laufen falsch geatmet habe. Die beiden Schläuche bohren sich durch die Haut, als wäre mir eine Schnittstelle eingebaut worden, leider kein USB, ich kann mein Telefon nicht anschließen, es sind bloß analoge Schläuche. Und plötzlich, bisher kannte ich das Wort ja nur aus dem Computerzusammenhang, verstehe ich es zum ersten Mal in seinem eigentlichen Sinn: Die Schnittstelle ist die Wunde, die Wunde ist die Schnittstelle, hier geht es herein und wieder hinaus.
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B. ist zurück aus Italien, steht im Zimmer und erzählt. Er erzählt, daß die erste Lebertransplantation in Denver, Colorado, durchgeführt worden sei, unter der Leitung des Chirurgen Thomas Starzl, 1963 sei das gewesen, er habe ihn später oft auf Kongressen getroffen. In den Jahren danach seien weitere Lebertransplantationen gelungen, aber erst 1967, dem Jahr der ersten Herztransplantation, habe ein transplantierter Patient länger als zwölf Monate überlebt. Chirurgisch habe die Operation schon früh kein allzu großes Hindernis mehr dargestellt, Schwierigkeiten hätten dagegen die Abstoßungsreaktionen bereitet. Ohne wirksame Unterdrückung reagiere das Immunsystem der Empfänger auf das neue Organ, die Ein-Jahres-Überlebensrate habe damals bei fünfundzwanzig Prozent gelegen, von vier Transplantierten habe nach einem Jahr also nur noch ein einziger gelebt.
Fast zehn Jahre, höre ich, gab es kaum Fortschritte, dann wurden neue Medikamente entwickelt, Ciclosporin und andere Calcineurinhemmer kamen auf den Markt, und 1984, o Wunder, wurde am Fuß des Berges Tsukuba, in der Nähe von Tokio, in einer Bodenprobe ein bis dahin unbekanntes Bakterium mit erstaunlicher immunsuppressiver Wirkung entdeckt. Das Medikament, das aus dem Wirkstoff dieses Bakteriums entwickelt und 1994 erstmals zugelassen wurde, schlucke ich nun jeden Morgen und jeden Abend, seinetwegen geht es mir so gut.
In Starzls Autobiographie, B. hat sie mir mitgebracht, ich blättere ein wenig darin herum, beschreibt er, wie er bei einem Spaziergang durch einen
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