Leben (German Edition)
sein. Er trägt Feldgrau und schwarze Stiefel und sieht aus, wie Wehrmachtsoffiziere in amerikanischen Filmen aussehen, Opa erzählt vom Krieg, ich höre nicht hin, ich will mir nicht erzählen lassen, immer sei alles ordentlich zugegangen. In Polen war er nicht dabei, er war bei einer Sitzkrieg-Einheit an der Westfront, dann hat er Frankreich erobert und Paris besetzt, worauf er ein klein wenig stolz gewesen sein dürfte, denn einen Krieg zuvor haben sie das nicht geschafft, er, sein Vater und seine beiden Brüder, einen Krieg zuvor ist es ihnen nicht gelungen, Paris zu erobern, und sein Vater und beide Brüder sind gefallen, an der Somme und in Verdun. Dann, nach der schönen Besatzungszeit in Frankreich, mußte er den Rußlandfeldzug mitmachen, Rußland aber sagte ihm nicht so zu, angeblich konnte er nie verstehen, was sie da eigentlich sollten, viel zu groß und viel zu kalt, und nirgendwo gab es Kinos, die hat er in Paris gemocht. Ich kenne ein Foto von ihm, da steht er vor dem Ciné Wepler an der Place de Clichy, ich habe mir die Stelle angesehen, fünfzig Jahre später, es gibt das Kino noch.
109
Eine Krähe landet auf der Stange, die den schlaffen Windsack hält, der Windsack erinnert mich an die Haube einer Nonne mit langen Haaren. Tragen Nonnen heute überhaupt noch Hauben? Krankenschwestern, obwohl das ja einmal zu ihrer Ikonographie gehörte, tragen keine mehr. Die Holzschnitte in einer Ausgabe von Boccaccios Dekameron fallen mir wieder ein, gerade wegen dieser meist erotischen Holzschnitte faszinierte mich das Buch schon früh, ich blätterte manchmal hinein, es stand im Zimmer meines Vaters, sehr weit unten im Regal. Einige der abgebildeten Nonnen waren nackt, eine von ihnen trug die Hose ihres Liebhabers statt ihrer Haube auf dem Kopf. Der Wind bewegt den Sack aus Stoff, er regt sich, da war wohl ein Hauch, und fällt wieder in sich zusammen.
110
Körperlicher Schmerz ist immer Gegenwart, ist unmittelbar, Schmerz ist Jetzt. In der Erinnerung ist Schmerz schon weniger groß, retrospektiv wird er immer kleiner. Schon am nächsten Morgen war es eigentlich nicht mehr so schlimm. Der Schmerz läßt nach, er beherrscht nur den Moment.
So lange es weh tut, bin ich noch da.
111
Als Kind hatte ich die Vorstellung, daß ich eines Tages an einen Ort komme, an dem ich alles erfahren werde, einen Ort, an dem sich alles klärt, alle Fragen, Rätsel und Probleme. Einen Ort, an dem sich herausstellt, was es mit diesem Leben auf sich hat, was dieses Leben überhaupt soll, wozu ich auf der Welt bin und warum was geschieht. Ich dachte, daß sich dort auch alle weiteren Fragen klären – was es mit den Sternen und dem Weltall, den Milchstraßen und Galaxienhaufen auf sich hat, warum das All so groß und wir so klein sind, wie es mit dem Leben auf der Erde anfing, warum die Dinosaurier ausgestorben sind, wir, die Menschen, aber noch nicht, und wann es für uns soweit ist etc. etc.
Einmal, ich war neun oder zehn Jahre alt, wollte ich es wissen und stellte mich mit einem Dolch in der Hand, einem Dolch, den unsere Nachbarin mir aus Marokko mitgebracht hatte, aufs Bett in meinem Zimmer und überlegte, mich in dessen stumpfe Klinge zu stürzen. So, dachte ich, müßte sich doch herausfinden lassen, was nach diesem Leben passiert. Was der Religionsunterricht in der Schule mir bis dahin als Antwort auf diese Frage angeboten hatte – Bibelgeschichten, der liebe Gott, Auferstehung und das ewige Leben –, hatte mich nicht zufriedengestellt, die Religionslehrerin schien keine Ahnung zu haben von dem, was nach dem Tod geschieht, ich aber wollte es wissen und hatte vor, mir dazu diesen Dolch, der eher ein Zier- und Dekodolch als eine gefährliche Waffe war, durch das rote Cordhemd zu stoßen, das ich an diesem Tag trug. Die Möglichkeit, daß überhaupt nichts kommen könnte, habe ich damals noch nicht in Betracht gezogen, vielleicht kommt ja wirklich nichts, gar nichts mehr, denke ich heute nicht so selten, vielleicht bleiben alle Rätsel ungelöst und alle Fragen offen. Das zu denken fällt allerdings nicht leicht, denn das Nichts ist für ein Ich ja fast eine Beleidigung – der eigenen Eitelkeit tut die Einsicht weh, daß man selbst nicht wichtig genug sein könnte, um auch nach dem Tod noch dazusein.
Ach ja, ich erinnere mich, deshalb bekommt der Mensch ja Kinder.
112
Die Ärztin mit den roten Haaren, die so beeindruckend über ihrer blauen OP-Jacke leuchten, befragt mich wieder zu den Schmerzen. Es gefällt mir, so
Weitere Kostenlose Bücher