Leben (German Edition)
immer ohne Helm? Hätte ein Helm überhaupt genützt? Hast du das Bewußtsein verloren und bist nicht mehr aufgewacht? Steckte ein Organspendeausweis in deiner Tasche, in deinem Portemonnaie, zwischen all deinen Bibliotheksausweisen, Paßbildern, Kassenzetteln und Bonuskarten? Warst du unterwegs, um ein Geschenk zu besorgen, ein Buch für deine Schwester? Warst du vielleicht nicht angeschnallt? Bist du durch die Windschutzscheibe eines Autos geflogen? Hatte das Auto, in dem du gesessen hast, keinen Airbag? Hat das Auto sich dreimal überschlagen? Viermal?
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Hanja und unser Unfall fallen mir wieder ein, vor Jahren war das, und ich sehe vor mir, wie wir beide durch die zerbrochene Seitenscheibe aus dem Auto geklettert und dann auf allen vieren durch die Scherben auf dem Kopfsteinpflaster gekrabbelt sind. Die Windschutzscheibe und die anderen Fenster waren zu kleinen Glaswürfeln, zu Kandiszuckerstückchen zerbröckelt, die im Mond- und Laternenlicht glitzerten.
Ich hatte sie angerufen und überredet, mit mir in die Staatsoper zu gehen, Dido und Aeneas , einmal in die Unterwelt. Nicht, weil ich unbedingt diese Oper sehen wollte, ich wollte Hanja sehen. Während der Vorstellung saßen wir dicht beieinander, unsere Knie berührten sich, Gespräche in der Pause, bla, bla, bla. Wir tranken noch etwas in einer improvisierten, inzwischen lange nicht mehr existierenden Bar in der Nähe der Torstraße, bevor wir uns auf den Heimweg machten. In ihrem fast neuen Peugeot fuhren wir, aus der Tucholskystraße kommend, über die Spree, ich bewunderte noch das Panorama, den Blick aufs Bodemuseum, den Fernsehturm dahinter und ihr Profil davor – dann krachte auf der Kreuzung hinter der Ebertbrücke ein anderer Wagen in uns herein. In meine Seite, die Beifahrerseite. Ein Krankenwagen brachte uns in die Charité, Hanja hatte bis auf den Schock nichts, ich jedoch konnte nicht mehr gehen, mein Sitzbein war gebrochen.
Tags zuvor war ihr, das hatte sie mir kurz vor dem Zusammenstoß erzählt, der Ring ihres in Italien lebenden Freundes ins Klo gefallen. Nach dem Unfall kam sie jeden Tag zu mir, kaufte ein, kochte und blieb dann einfach. Nur der Sex war kompliziert, ich konnte mich ja kaum bewegen.
Besaß ich damals schon einen Organspendeausweis? Hätten in dieser Unfallnacht, wenn ich gestorben wäre, zwei oder drei Telefone geklingelt? Bestimmt. Ich wußte ja schon, eines Tages wird es soweit sein, eines Tages muß ich auf die Liste.
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Rekonvaleszenz, ich genese. Ich schlafe, ich esse, ich bekomme Besuch, von Lebenden, von Toten. Ich sitze am Fenster und höre eine Flöte. Eine Flöte? Wer spielt im Krankenhaus Querflöte?
Ich habe selbst einmal Querflöte gespielt, vor langer Zeit, ich besitze sogar noch eine, aus Silber, immer wieder mal wollte ich sie verkaufen, konnte mich dann aber doch nicht von ihr trennen. Ich erinnere mich, daß ich auf der Trauerfeier vor der Beerdigung meiner Mutter darauf gespielt habe, mein Vater sagte vorher, sie hätte sich das gewünscht. Ich ging nach vorn, der Notenständer stand schon da, die Noten waren aufgeschlagen und mit dem Metallbügel festgeklemmt, ich verrückte den Notenständer ein wenig, justierte die Höhe, zog die Flügelmutter fest und setzte die Flöte an die Unterlippe, legte die Fingerkuppen auf die Klappen und begann. Ich weiß nicht mehr, was ich spielte, irgendeine Etüde aus meinem Übungsheft, ein einfaches Stück, das ich schon sehr oft geübt hatte, es ging ja nicht um Virtuosität, es ging um die Idee des Flötenspiels, und ich dachte noch, daß ich eigentlich lieber Trompete als Querflöte gelernt hätte, vielleicht auch Schlagzeug, nach dem Blockflötenunterricht aus irgendeinem Grund aber – hatte meine Mutter mich vielleicht dazu überredet? – mit Querflöte angefangen hatte und dabeigeblieben war. Ich spielte also und hörte mir selbst dabei zu, sah mich in dieser Aussegnungshalle aus den fünfziger Jahren stehen und auf die Fugen zwischen den Bruchplatten starren, die Fugen bildeten komplizierte Muster, Schriftzeichen, die ich nicht entziffern konnte. Das Stück, das ich spielte, hätte ich eigentlich auswendig vortragen können, den Notenständer hätte es nicht gebraucht, dann aber verspielte ich mich doch, weil ich während des Vorspiels glaubte, meine Mutter im Publikum der versammelten Trauergesellschaft zu sehen, mir war, als säße sie zwischen all den Menschen, von denen ich kaum jemanden kannte, und hörte zu, wie sie immer bei Musikschulkonzerten
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