Leben (German Edition)
Woher wissen sie, daß ich hier liege? Woher wissen sie, daß ich noch lebe?
Tagsüber kommt nie einer durch die Tür, tagsüber ist sie gar nicht da, sie öffnet sich nur nachts.
Einmal stehe ich auf und möchte selbst durch diese Tür, dahinter aber liegen drei weitere Türen, und als ich die linke öffne, liegen dahinter wieder drei Türen und hinter der linken wieder drei Türen und so weiter. Wo käme ich hin? Und wie wieder zurück?
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War auch mein Vater gerade hier? Hat er mir eben den Fernseher ins Krankenhaus gebracht, bin ich wieder zwölf oder dreizehn und sehe die Raumfähre explodieren? Müßte nicht er hier liegen, krank, alt und schwach, und müßte nicht ich gesund am Bettrand stehen und ihm alles Gute wünschen? Wieso liege ich hier und nicht er, mußten wir etwa die Rollen tauschen? Ich möchte es nur ungern zugeben, aber sein gesundes Aussehen ärgert mich.
Seine Armbanduhr liegt auf dem Nachttisch, neunzig Mark soll sie gekostet haben, 1955, eine Uhr, zu der es zwei Geschichten gibt. In der einen ist es seine Konfirmationsuhr, und er hat sie von seinem Patenonkel geschenkt bekommen. In der anderen, der Wirtschaftswundergeschichte, hat er sich die Uhr von seinem ersten selbstverdienten Geld gekauft – angeblich hat er vier lange Sommerferienwochen auf einer Baustelle geschuftet und Steine geschleppt und war am Abend des ersten Arbeitstages so erschöpft, daß er nicht mehr geradeaus gehen konnte.
Mitte der achtziger Jahre hat er dann aufgehört, die Uhr zu tragen, sie geht, was mich nicht stört, manchmal ein wenig nach. Und ob der Sekundenzeiger es gegen die Schwerkraft zur Zwölf hinauf schafft, hängt davon ab, wie ich den Arm halte, auf der anderen Seite fällt er dafür oft hinunter. Das sieht dann aus, als würde die Zeit beschleunigen.
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Ein Kind ist auf einmal im Zimmer, mitten in der Nacht, ein Junge, den ich gar nicht kenne, obwohl er Papa zu mir sagt. Seit wann habe ich einen Sohn? Und wieso besucht er mich mitten in der Nacht? Müßte er nicht schlafen? Haben wir dieses Kind bekommen? Von seiner Mutter keine Spur.
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Ich wache auf und freue mich, daß ich noch da bin. Ich freue mich so sehr, als hätte ich nicht mehr damit gerechnet, noch dazusein, ich freue mich wie verrückt. Einfach bloß, weil ich noch da bin? Ich kenne diese Morgenfreude, die Tochter wacht manchmal so auf, sie lacht und freut sich, daß sie da ist. Sie kann sich halt noch freuen, sie ist noch nicht so lange auf der Welt.
Ich wälze mich aus dem Bett, nehme die Beutel in die Hand, werfe den Morgenmantel über und wanke hinaus auf den Flur. Meine Mutter müßte jetzt sagen, heb die Füße hoch, ich aber schlurfe bis zum Tablettwagen, auf dem die Thermoskannen stehen, nehme eine der Tassen, eigentlich sind es Becher, und gieße mir Kaffee ein. So schlecht schmeckt der Kaffee hier gar nicht, er schmeckt mir sogar ganz gut, er schmeckt mir jeden Morgen besser, es stimmt nicht, daß Krankenhauskaffee – leicht säuerlicher, nicht besonders starker Filterkaffee – nicht schmeckt. Oft denke ich schon am Abend, kurz vor dem Einschlafen, an den ersten Schluck am nächsten Morgen, und manchmal ist die Vorfreude dann so groß, daß ich gar nicht mehr einschlafen kann.
Auf dem Rückweg vom Tablettwagen halte ich den Kaffeebecher wie ein Pfarrer den Kelch beim Abendmahl. Es geht mir so gut, ich bin, obwohl ich erst einen winzigen Schluck abgetrunken habe, damit ich Richtung Zimmer nichts verschütte, schon kaffeeeuphorisch, der Kaffee ist ein Zaubertrank, der mich verwandelt, motiviert. Ich möchte nun doch mit diesem Brief anfangen, ich möchte plötzlich diesen Dankesbrief schreiben, es erscheint mir auf einmal ganz leicht, so einen Brief zu schreiben, er müßte sich wie von selbst schreiben, du weißt doch am besten, was du den lieben Verwandten mitteilen möchtest, ich müßte bloß den Stift für dich halten, dann schreibst du, was du willst. In meinem Zimmer setze ich mich aufs Bett, schlage den karierten Notizblock auf und senke den Füller, es ist ein neuer Füller, einer, den ich in dem Schreibwarengeschäft nicht weit vom Haupteingang gekauft habe, aufs Papier – aber nichts passiert. Bist du doch schon tot und kannst nicht mehr schreiben? Oder möchtest du nicht, möchte ich nicht mehr? Ich trinke noch einen Schluck Kaffee, aber die Euphorie, die ist vorbei.
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Alle, die hier liegen, sind ganz wild darauf, ihre Geschichte zu erzählen, quatschen mich zu mit ihrem sogenannten Schicksal. Sie
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