Leben (German Edition)
zugehört hatte, mir war, als schaute sie von dort oder von sehr weit oben auf mich herab. Auf die Idee, daß sie aus dem Sarg neben mir hätte schauen oder zuhören können, aus dem Sarg, der nur ein Stück rechts vom Notenständer stand, kam ich nicht, denn das, was in diesem Sarg lag, ich hatte die Leiche ja gesehen, hatte nichts mit ihr zu tun, das war eine Puppe, eine nicht lebensechte, wächsern wirkende Puppe, die bloß angefertigt worden war, damit dort etwas lag.
Später hat mein Vater sich gewundert, daß ich nicht mehr Querflöte üben wollte und bald auch mit dem Unterricht aufhörte. Dabei habe ich im Schulorchester eigentlich gern gespielt.
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Und wie war deine Beerdigung? So lange kann die doch noch nicht her sein. Tut mir leid, daß ich nicht da war.
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In den ersten Monaten nach dem Tod meiner Mutter behauptete ich in der Schule hin und wieder, ich müßte zum Arzt, ließ mich entschuldigen und fuhr zum Friedhof, stand eine Weile am Grab herum, goß die Blumen, zupfte Unkraut und hob die Blätter auf, die neben das vorläufige Holzkreuz gefallen waren. Ich konnte immer noch nicht glauben, geschweige denn verstehen, daß meine Mutter, die doch vor kurzem noch im Krankenhaus gelegen hatte, jetzt hier in dieser dunklen feuchten Erde liegen sollte. Nein, meine Mutter war anderswo.
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Ich habe gehört, daß manche Transplantierte auf Friedhöfe gehen und sich ein Grab suchen, irgendein Grab, das ihnen gefällt, eines mit einem wohlklingenden eingravierten Namen auf einem schönen Stein, und dort Blumen ablegen. Oder einfach dort sitzen. Ja, vielleicht mache ich das auch. Ich suche mir eine Tote. Ich müßte bloß die Seestraße überqueren, da liegt der große Friedhof.
Mit Julia bin ich gern auf Friedhöfe gegangen, zusammen waren wir auf vielen Friedhöfen Berlins. In Stahnsdorf auf dem Südwestkirchhof, auf dem Invalidenfriedhof, auf den Friedhöfen am Südstern, auf der Schöneberger Insel, in Weißensee und auf dem halb verfallenen hinter dem Volkspark Friedrichshain. Immer neue tat sie auf, ich glaube, sie sammelte Friedhöfe.
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Um drei habe ich eine Verabredung am Ende des Flurs, deshalb hieve ich mich kurz vor halb aus dem Bett. Ich weiß ja, ich bin langsam. Ich ziehe mir einen frischen Keimkittel über, setze eine Haube auf, schlüpfe in die weißen Handschuhe, lege den Mundschutz an und verlasse das Zimmer gegen Viertel vor. O Krankenhausflur, du bist mein Grand Boulevard. Ich schleiche, jede Schildkröte wäre schneller, vorbei an dem Wagen, auf dem die Kaffee-, Tee- und Milchkannen sowie zwei vom Mittagessen übriggebliebene Nachspeisen stehen, eine gelbe Masse in Plastikschälchen, die angetrocknete Oberfläche runzlig wie alte Haut. Ich schleiche vorbei an der Feuerlöschernische, vorbei an dem Raum mit der Waage, an der Tür des Schwesternzimmers und an dem Glaskasten, in dem die Empfangsschwester sitzt, als wäre es eine Rezeption, vielleicht ist das hier doch mein Kurhotel in den Bergen, mein Sanatorium im sechsten Stock. Ich biege um die Ecke, es sind nur noch vierzig, höchstens fünfzig Meter bis zum Ende des Flurs, aber der Flur ist länger geworden, bilde ich mir ein. Es überhaupt bis an sein Ende zu schaffen gehört schon zur Verabredung, denn leider habe ich kein Rendezvous, sondern bloß einen Termin zur Krankengymnastik, völlig unnötigerweise habe ich darüber nachgedacht, ob es sich mit Mund- und Nasenschutz gut küssen läßt.
Ein paar Stühle stehen im Kreis, fünf Personen sitzen schon da, ein Mann hat ein tragbares Sauerstoffgerät bei sich. Der Raum ist stickig, aber wenn das Fenster offensteht, zieht es, und Zug ist schlecht, deshalb wird das Fenster nach kurzer Diskussion wieder geschlossen. Einige Patienten tragen einen Mundschutz wie ich, mir fällt es schwer, durch die Lamellen zu atmen, es ist heiß, aber Bewegung muß sein, sagt die Physiotherapeutin, zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt, sie hat gerade verraten, es sei das erste Mal, daß sie die Gymnastik leitet. Wir sollen im Sitzen das linke Bein anheben und kreisen lassen. Wir sollen im Sitzen das rechte Bein anheben und kreisen lassen. Wir sollen die Beine im Sitzen strecken, wir sollen aufstehen und erst das rechte, dann das linke Bein kreisen lassen. Wir sollen die Arme kreisen lassen. Eine der Patientinnen, eine ältere Dame um die siebzig, sie könnte meine Mutter sein, hat ihr Nachthemd nicht richtig zugeknöpft. Ohne daß ich es möchte, ich habe die Augen nur nicht schnell
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