Leben (German Edition)
genug geschlossen, sehe ich, wie wenig von ihrem Körper übrig ist, fast nichts ist von ihm übrig, ja ich wundere mich, daß so wenig Körper überhaupt ein Nachthemd tragen kann. Ich möchte fast glauben, sie ist schon ein Gespenst.
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Die Sonne scheint, ich sitze am offenen Fenster, die Tür geht auf, ein Arzt kommt ins Zimmer. Er sagt, ich solle lieber aus der Sonne gehen. Warum? Ach ja, die Wahrscheinlichkeit, an Hautkrebs zu erkranken, ist bei Einnahme eines Immunsuppressivums stark erhöht, hundert- bis fünfhundertmal höher als normal. Na toll – also ist die Sonne jetzt mein Feind. Es gibt Statistiken, nach denen ein Drittel aller Transplantierten an Hautkrebs stirbt. Möchte ich eigentlich nicht wissen. Anderswo lese ich, daß sich bei der Hälfte aller Organempfänger innerhalb von zehn Jahren maligne Tumore in der Haut entwickeln. Schöne Aussichten, ich darf nicht mehr in die Sonne. Mir wird trotzdem warm.
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Ich trage dich mit mir herum, ich weiß dich in mir, ich habe dich immer dabei. Dann und wann bin ich überrascht, daß ich auch mal eine halbe Stunde lang nicht an dich gedacht habe. Und dann denke ich sofort wieder: Ach ja, ich bin jetzt nicht mehr allein, nie mehr, ich habe dich ja immer bei mir, eingesetzt, festgenäht, angewachsen, du bist ein Stück von mir.
Höre ich mich an wie ein Erleuchteter? Sprechen nicht sehr gläubige Menschen so von ihrem Jesus, der angeblich immer bei ihnen ist?
Die Tochter, fällt mir ein, spielte auch einmal diese Rolle – als sie gerade geboren war und noch lange danach. In den ersten Monaten war jeder Moment und jeder Gedanke ein Kindermoment und ein Kindergedanke. Später, als sie in den Kindergarten kam, habe ich hin und wieder auch mal eine Stunde oder länger nicht an sie gedacht.
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Die sieben-, fast achtjährige Nichte meines Zimmernachbarn ist zu Besuch. Als sie hört, daß ich eine neue Leber bekommen habe, fragt sie, wie der heiße, von dem ich meine neue Leber hätte. Möchte ich auch gern wissen, sage ich, aber ich weiß es nicht. Und was macht der jetzt? Hat der deine? Hat der jetzt deine Leber?
Mir gefällt der Gedanke, die Transplantation vollziehe sich wie ein Gabentausch, das eine Organ gegen das andere. Ich möchte dem Mädchen lieber nicht erklären, wie kaputt meine Leber war, möchte ihm nicht sagen, daß sie keinem mehr zuzumuten gewesen, daß mit ihr niemand glücklich geworden wäre.
Aber wo ist deine Leber jetzt?, insistiert das Mädchen, es will es doch genauer wissen. Also sage ich: Die wollte keiner haben. Die wurde aufgeschnitten, untersucht und dann wahrscheinlich entsorgt. Ich sage entsorgt und denke weggeworfen , wahrscheinlich wurde sie zusammen mit anderem Klinikabfall verbrannt, das Krankenhaus hat eine eigene Müllverbrennungsanlage, muß die ja haben.
Erst die Frage des Mädchens bringt mich darauf, an meine eigene, ursprüngliche, die erste Leber zu denken. Vierunddreißig, fünfunddreißig, fast sechsunddreißig Jahre habe ich sie mit mir herumgetragen, überallhin, und ebenso lange hat sie mehr oder weniger gut für mich gearbeitet. Und nun habe ich gar nicht mehr an sie gedacht?
Vorher ja. Vorher wollte ich sie mir nach dem Eingriff unbedingt ansehen, wollte sie aufheben, einlegen, vielleicht bestatten, sie begraben. Und dann ist sie in der Pathologie gelandet, und ich habe nicht mehr nach ihr gefragt. Vermisse ich dich, altes Stück Fleisch?
B. sagt, sie müsse wie eine größere, arg verschrumpelte Kartoffel ausgesehen haben. Ich will das nicht mehr wissen.
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Es gibt da die Geschichte von dem herztransplantierten Patienten, der sein eigenes, sein altes, ursprüngliches Herz jede Nacht unter seinem Klinikbett klopfen hört. Oder klopfen zu hören glaubt. Er hat eine solche Angst vor seinem alten Herzen, daß er gar nicht mehr ins Bett gehen, sich nicht mehr niederlegen möchte. Und wenn er sich doch einmal hinlegt, muß er immer wieder aufstehen, um unter seinem Bett nachzusehen, ob da sein Herz schlägt, er hört es ja klopfen. Schließlich zieht er in den Aufenthaltsraum um und schläft dort in einem Sessel ein.
Ob er The Tell-Tale Heart von Edgar Allen Poe gelesen hatte? Bin ich froh, daß ich nur ab und zu eine Ente höre, deren Gequake ich nicht verstehen kann.
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Was ist ein Organ? Was ist das, was dem einen aus dem Leib geschnitten und einem anderen eingepflanzt wird? Eine frühe Definition stammt von Thomas von Aquin, er unterschied Organe und Instrumente. Während ein Instrument, ein
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