Leben (German Edition)
reden, reden ohne Punkt und Komma, nur von dir höre ich kein Wort.
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Plötzlich wird mir klar, daß du ja sehr wahrscheinlich – und daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht – auch in einigen anderen Menschen weiterlebst. Ich habe dich gar nicht für mich allein, Liebste, ich habe dich nicht exklusiv, ich muß dich vermutlich noch mit anderen Organempfängern teilen, ich habe Transplantationsgeschwister, ohne zu wissen, wo.
Wir fünf bis sechs Empfänger könnten Freunde werden, das Herz, die Lunge, die beiden Nieren, die Bauchspeicheldrüse und ich, die Leber, wir könnten uns begegnen, ohne uns zu erkennen, wie sollten wir auch. Wir könnten zur gleichen Zeit am selben Ort sein, auf demselben Konzert, auf demselben Schiff, im selben Flugzeug, wir könnten gemeinsam abstürzen oder als die einzigen Überlebenden auf einer Insel angespült werden – aber diese Geschichte kenne ich schon, ich habe Lost gesehen, alle Staffeln, und Robinson Crusoe wiedergelesen, was für ein Buch.
Wir könnten, wie von unsichtbarer Hand geführt, zusammen irgendwo eingeschlossen werden, die beiden Frauen, die je eine Niere erhalten haben, der Mann mit einem Lungenflügel, ich, die Leber, das Kind mit der Bauchspeicheldrüse und das Herz, das nun im Brustkorb eines vierundfünfzigjährigen Kunsthistorikers schlägt, und finden erst nach und nach heraus, was uns verbindet. Zufällig – Zufälle aber kann und dürfte es hier keine geben – befinden wir uns alle in derselben Seilbahngondel, die über einem Abgrund hängenbleibt, zufällig bleiben wir im selben Flughafenaufzug stecken und müssen uns ein paar Stunden lang ertragen, ja, ja, die Hölle, das sind die anderen, Theaterbesucher kennen das.
Unsere Lebenswege könnten sich aber auch zuvor schon gekreuzt haben, in Ferienwohnungsanlagen, bei Fußballspielen, auf Fährüberfahrten, in Familienerholungsheimen, ach, und was wäre auch das für ein toller Trivialroman: wenn wir nach der Transplantation plötzlich andere Erinnerungen und eine andere Vergangenheit hätten, wenn wir feststellen müßten, plötzlich Geheimnisse zu kennen, den Ort, wo die Beute vergraben ist, das Versteck eines Gesuchten, die Lösung eines Rätsels, ja auf einmal gejagt würden, über die ganze Welt, weil andere um unser neues Wissen wüßten.
Oder, noch ein anderes Szenario, zwei oder drei der Transplantationsgeschwister begegnen sich in derselben Reha, das dürfte, unwahrscheinlich ist das nicht, sogar schon vorgekommen sein. Das Operationsdatum kann die geheime Verbindung ja verraten.
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Der Bettnachbar, ich habe ihn länger nicht weiter beachtet, das gelingt mir mittlerweile gut, spricht über Fußball. Wir unterhalten uns über die bald beginnende neue Bundesligasaison. Die Hertha, die Bayern, Schalke, der FC. Es gibt die Gegenwart noch, ich vergesse das manchmal. Wir tauschen Standardsätze aus, Fußballgesprächsbausteine, vorgefertigt, austauschbar, es sind seit Jahren die gleichen, nur ein paar Namen ändern sich.
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Ich sitze am Fenster und sehe hinunter. Eine blonde Frau geht vorbei, schwarze Strumpfhose, der helle Mantel offen, kurzer Rock, Haare hinten zusammengesteckt, weiße Kopfhörer im Ohr. Schon frage ich mich, bald ein Reflex: Hast du vielleicht so ausgesehen? Schritt, Schritt, noch ein Schritt. Ich schaue ihr hinterher, und vielleicht spürt sie, daß sie beobachtet wird, eine kleine Veränderung in ihrer Bewegung scheint das anzudeuten, sie dreht ihren Kopf leicht zur Seite, schaut sich um und überquert die Straße.
Bis heute habe ich nicht verstanden, auf welche Weise Menschen spüren, daß sie beobachtet werden, zumal aus einer Richtung, die gar nicht in ihrem Sichtfeld liegt. Gibt es ein Intuitionsradar? Einen Sensor für Beobachtungspartikel? Wenn ich ihr eine Nachricht senden könnte, dann würde ich der Frau im Staubmantel nun die Nachricht senden, wie schön sie geht und wie sehr mir gefällt, daß ihr goldblondes Haar bis hoch zu meinem Fenster leuchtet. Sie biegt um die Ecke, ist nicht mehr zu sehen.
Hattest du vielleicht Kopfhörer im Ohr? Welches Lied lief, als du die stark befahrene Straße hinuntergeradelt bist? Wie lauten deine hundert meistgespielten Titel? Und meine Ohrwürmer, kommen die jetzt von dir?
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Vielleicht hat ein Lastwagenfahrer nicht aufgepaßt. Hat zwar in den Spiegel geschaut, dich aber nicht gesehen, als du auf dem Rad in den toten Winkel gerollt bist. Wolltest du weiter geradeaus? Ist der Lastwagen dann abgebogen? Und du, wie
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