Leben (German Edition)
Beil zum Beispiel, unabhängig von einer bestimmten Seele existiere, sei ein Organ unitum et proprium , weil es bloß einer einzigen Seele zugute komme. So ungefähr steht es im Historischen Wörterbuch der Philosophie , Band 6, Stichwort Organon. Ich kann das auf meinem Telefon lesen, selbst hier, im Krankenhaus.
Um ein transplantiertes Organ in ein aquinisches Instrument zu verwandeln, das nicht mehr nur von einer Seele, sondern nacheinander von verschiedenen Seelen – oder Immunsystemen – genutzt werden kann, gilt es, sie zu überlisten. Das gelingt mit dem Immunsuppressivum, das ich jeden Tag einnehme, morgens und abends, Kapseln, sie schmecken nach nichts.
Organe sind selbständig und abhängig zugleich. Sie können nicht allein und für sich sein und haben doch ein Eigenleben, führen das aber ausschließlich innerhalb eines Organismus. Ihr Leben, ihre vita propia , ist bloß geliehen, deshalb, sagte Schelling, seien Organe Individuen, deren Individualität nur in Abhängigkeit von oder im Verhältnis zu einem Gesamtorganismus in Erscheinung treten könne. Wird ein Organ vom Organismus getrennt, stirbt das Organ; der Organismus stirbt allerdings auch. Es ist ganz einfach: Ich sterbe ohne Leber, die Leber stirbt ohne mich.
Also ist das, was ich fühle, dieses Leben, das ich noch habe, ein Zusammenspiel mehrerer Organe. Alles Lebendige tritt nie als Einzahl, sondern immer als Mehrzahl in Erscheinung. Leben ist die hybride Versammlung verschiedener Organe, gemeinschaftliche Praxis, ein Konzert, in dem jedes einzelne Organ Interesse am Überleben hat. [2]
180
In der Nacht, das Fenster steht offen, höre ich draußen das Meer, höre die Brandung im Baumkronenrauschen.
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Beim Durchblättern der Zeitung reiße ich das Foto einer Frau heraus, das über einem Nachruf abgedruckt ist. Sie sei, lese ich, letzte Woche gestorben. Mir kommt es vor, als schaue sie nun, da ich weiß, daß sie tot ist, irgendwie anders aus dem Bild heraus.
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Als mein Vater und ich das letzte Mal bei meiner Mutter waren, an einem Sonntag, hatte ich die Kamera dabei, eine schwere Spiegelreflexkamera, Metallgehäuse, Minolta SRT 101. Ich fotografierte das Krankenhaus von außen, das Straßenpflaster, die weißen Linien auf dem Parkplatz, aber auch die Türklinken und den Krankenhausflur innen, nur meine Mutter fotografierte ich nicht, auf die Idee bin ich nicht gekommen. Auf zwei verschwommenen, kontrastarmen Aufnahmen der Krankenhausfassade im Nieselregen konnte ich das Fenster ihres Zimmers abzählen, es war im vierten oder fünften Stock.
Dort lag sie auf einem Schafsfell, weil es sich auf einem Schafsfell angenehmer liegen läßt, hieß es auf der Onkologie dieses Anthroposophenkrankenhauses, aber das O-Wort kannte ich damals wohl noch nicht. Ich weiß noch, daß sie mich bat, ihr etwas zu erzählen, ich aber nicht wußte, wovon ich erzählen sollte, was hatte ich schon zu erzählen? Von Montag bis Freitag war ich in die Schule gegangen, vielleicht sogar am Vortag, am Samstag, wir hatten ja jeden zweiten Samstag Unterricht, möglicherweise hatte ich eine Klassenarbeit geschrieben, ein Diktat in Deutsch, eine Lateinarbeit. Nachmittags hatte ich Hausaufgaben gemacht und davor oder danach vielleicht ein oder zwei Filme gesehen, unten, im Wohnzimmer, Filme, die ich von Freunden geliehen oder in den Nächten zuvor aufgenommen hatte, der Videorecorder ließ sich ja programmieren. Videorecorder waren noch sehr neu, das Konzept, sich Filme zu Hause ansehen zu können, wann es einem gefiel, unabhängig vom Fernsehprogramm, unabhängig von den nur drei Programmen, die nachmittags sowieso nichts zeigten, war es auch. Vielleicht hatte ich, eher unwahrscheinlich, Flöte geübt oder war in die Stadt gefahren, in die Stadtbücherei, wer weiß, und hatte abends gelesen oder ferngesehen oder, neue Freizeitbeschäftigung, an dem Computer gespielt, der im Arbeitszimmer meiner Mutter stand, sie benutzte es ja nicht mehr und würde es weiterhin nicht mehr benutzen. Von den Computerspielen, deren Programme ich mühsam von einem Listing abgetippt und dann auf einer Tonkassette abgespeichert hatte, Heimcomputersteinzeit, verriet ich ihr besser nichts, weil ich wußte, daß sie diese Art von Beschäftigung für Zeitverschwendung hielt. Vielleicht berichtete ich ihr, daß ich am Montag, wie fast jeden Montag, im Fotolabor der Schule gewesen war und Bilder entwickelt hatte, das hieß, ich hatte Bilder abgezogen, in Schwarzweiß und Grau in Grau,
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