Leben (German Edition)
ihr Kind umzubringen? Auf diese Weise? Aus politischer Hoffnungslosigkeit, stand in ihrem Abschiedsbrief, sie fürchtete, die Nazis könnten wieder die Macht übernehmen, die Amerikaner einen Atomkrieg anfangen, Atomkraftwerke die Erde verstrahlen, Waldsterben, Umweltzerstörung und so weiter, sie sehe keine Zukunft, pathetischer Quatsch.
Ihrem Sohn hatte sie Schlaftabletten ins Essen gemischt, hatte ihn ins Auto gesetzt und war mit ihm herumgekurvt, bis er eingeschlafen war, hatte dann selbst Schlaftabletten genommen und genug dazu getrunken und war schließlich in die Doppelgarage mit Walmdach gefahren, in der die beiden Surfbretter ihres Mannes unter der Decke hingen. Das Garagentor schloß sie per Fernbedienung, sie schob eine alte Matratze vor die Lüftungsschlitze, kurbelte die Fenster hinunter und ließ den Motor laufen.
Oder war all das Leiden an der politischen und ökologischen Ausweglosigkeit vorgeschoben, weil es eigentlich bloß darum ging, daß ihr Mann schon länger eine Freundin hatte und sie verlassen wollte? Jedenfalls weiß ich seither, weshalb in Neubaugaragen diese gelben Schilder kleben, auf denen «Achtung, Motor abstellen! Erstickungsgefahr!» steht.
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Schlafmittel werden im Krankenhaus gern gegeben und gern genommen, gute Nacht. Ich lasse mir jeden Abend eine Schlaftablette geben, aber anstatt sie zu nehmen, lege ich sie zu den anderen in der Schublade meines Nachtschranks. Was natürlich streng verboten ist.
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In einer der Nächte wache ich auf und bin auf einmal glücklich. Ich bin selbst überrascht, wie glücklich ich bin. Plötzlich weiß ich wieder: Es gibt noch so viel da draußen. Es gibt das Kind, das mich noch ein paar Jahre braucht, es gibt so viel zu sehen, zu tun, zu lesen, es gibt so viel zu leben. Liegt nicht alles da? Wartet nicht alles darauf, getan, gemacht, erobert, vollbracht zu werden? Ein paar Stunden später, am nächsten Morgen nach dem Frühstück, ist die Hochstimmung verflogen. Vormittags ist es am schlimmsten. Der Tropf, an dem ich hänge, tropft. Ich höre ihn nicht, ich sehe ihn bloß tropfen. Der Ständer, an dem die Flasche hängt, heißt Galgen.
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Und dann schaffe ich es doch wieder nicht vom Bett bis ins Bad, kleine Rückschläge. Die Schwester, die freundlichste und zugleich hübscheste, wäscht mir den Rücken, sie wäscht ihn mit einem warmen Waschlappen, tunkt ihn mehrmals in die Schüssel mit dem Wasser, in das sie ein paar Spritzer Waschlotion gegeben hat, ich werde länger nicht duschen können. Nicht nur, weil ich es nicht bis ins Badezimmer schaffe, da sind auch noch diese Wülste auf meinem Bauch, die Nähte der riesigen Narbe, und mir hängen die transparenten Plastikschläuche aus dem Bauch.
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Nicht so schlimm, früher habe ich auch länger nicht geduscht. In der Schöneberger Wohnung gab es kein Badezimmer, immerhin aber, auch das nicht in allen Häusern eine Selbstverständlichkeit, eine Innentoilette. Zum Waschen stellte ich mich neben der Küchenspüle in eine kleine Plastikwanne und wusch mich mit einem Waschlappen, danach verstaute ich die Wanne in der Kammer der Küche. Anfangs ging ich zweimal die Woche ins Schwimmbad, dann immer seltener, schließlich ging ich gar nicht mehr, weil mich die Omis und Opas störten, die rücksichtslos oder blind oder beides durch das viel zu warme Wasser pflügten. Oder aber ich war bloß zu faul, morgens früh aufzustehen, ins Schwimmbad zu gehen, wieder zurückzukehren und gleich darauf in die Uni zu fahren. Die Alternative, vom Schwimmbad aus gleich in die Uni zu fahren, schied aus – ich hatte keine Lust, den ganzen Tag eine Tasche mit meinen nassen Badesachen durch die Stadt zu tragen. Fragte mich jemand, wie ich es ohne Badezimmer, Dusche oder Wanne in meiner Wohnung aushielt – Fragen, die von westdeutschen Besuchern oft gestellt wurden, die sich, verwöhnt, wie ich es gewesen war, ein Leben ohne Badezimmer und Zentralheizung gar nicht vorstellen konnten –, erzählte ich von Schwimmbadbesuchen, obwohl sie gar nicht mehr stattfanden.
Hin und wieder duschte ich anderswo, ich duschte fremd oder ging fremdduschen, wie ich es damals nannte, irgendwann, sie wußte von meiner Wohnsituation, lud eine von Rebeccas Freundinnen mich ein, doch mal bei ihr zu duschen. Sie wohnte in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung in der Apostel-Paulus-Straße und hatte keine Zentralheizung, dafür aber eine Duschkabine in der Küche. Wir saßen lange in dieser Küche, Kuchen und Weintrauben standen auf dem
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