Leben (German Edition)
denn das mit der Blende und der richtigen Belichtung hatte ich noch nicht verstanden. Vielleicht zeigte ich ihr auch eines meiner Anti-Fotos, Bruchlinien in einer Asphaltdecke, eine eingetrocknete Pfütze, Lehmmalerei, eine Wasseroberfläche, fast immer waren es Nahaufnahmen, aber angesehen habe ich meine Mutter nicht. Ich sah nicht oder wollte nicht sehen, wie schlecht es ihr ging, ich begriff auch nicht, daß das unser Abschiedsbesuch war, oder wollte es nicht begreifen. Mir war, ich war zwölf, fast dreizehn, noch nicht einmal die Idee gekommen, daß sie tatsächlich sterben könnte – obwohl ich theoretisch, aber eben nur theoretisch wußte, daß sie ihre Krankheit nicht mehr überleben würde.
Jetzt liegt sie hier, nachts wenigstens. So richtig tot ist sie nie gewesen. Mütter bleiben ja, immer.
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Noch im Jahr vor ihrem Tod, nach einer Chemotherapie, als sie dachte, sie habe die Krankheit hinter sich, begann meine Mutter, das Haus umzubauen. Im Erdgeschoß ließ sie erst das Eßzimmer zur Küche hin öffnen, dann Musik- und Wohnzimmer zu einem Raum verbinden und schließlich die Fenster zum Garten vergrößern, die niedrigen Sockelmäuerchen der Blumenfensterbank wurden abgeschlagen und bodentiefe Panoramafenster eingesetzt. Mir gefiel, wie die Bauarbeiter mit Preßlufthammer und Vorschlaghammer herumwüteten. Unser Haus sollte weiter, großzügiger, offener werden, meine Mutter wollte keine Türen mehr, alles wurde weiß gestrichen. Kamen die Handwerker, stand sie auf.
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An dem Tag, als sie starb, es war ein Montag, kam ich aus der Schule nach Hause und wollte ihr etwas erzählen. Auf einmal hatte ich etwas zu erzählen, das sie unbedingt wissen sollte. Ich wählte ihre Nummer im Krankenhaus, die Nummer, die ich auswendig konnte, weil ich sie in den letzten Wochen oft genug auf unserem Wählscheibentelefon gewählt hatte, hörte das Freizeichen und dann eine fremde Stimme, die sagte, meine Mutter sei in ein anderes Zimmer verlegt worden. So jedenfalls lautete die Auskunft.
Das Schafsfell hat mein Vater wieder mit zurückgebracht. Später lag es, ich weiß gar nicht, warum, in meinem Zimmer auf dem Boden, manchmal auch auf meinem Bett.
Für den Kinderwagen, den Tochterkinderwagen, gab es dann ein Lammfell.
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Die Visite, heute eine große Visite, es muß Montag sein, kommt um kurz nach sieben ins Zimmer, die Ärzte wecken mich, sie haben drei Studentinnen mitgebracht. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und schaue auf die Schuhe, die unter den weißen Hosen und Kitteln zu sehen sind, ein Stück Privatleben: Zwei der Studentinnen tragen Turnschuhe, die dritte, eine Blonde, hat pinke Ballerinas an, der Stationsarzt trägt lederbesohlte, vielleicht sogar handgenähte Schuhe, eine Ärztin Birkenstock-Sandalen, der Chefarzt, ich traue meinen Augen nicht, steht in weißen Lederslippern da. Ich kann gar nicht aufhören, diese weißen Lederslipper anzustarren. Hallo, sind Sie Rolf Eden? Hat mich ein Mann operiert, der solche Schuhe trägt?
Später, ich schaffe es wieder bis zur Waage, betrachte ich die Hausschuhe meiner Mitpatienten: Schlappen, Flip-Flops, Pantoffeln, Vollgummischuhe mit Lüftungslöchern und Joggingschuhe. Nur Hüttenschuhe sehe ich nicht.
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Zwei oder drei Monate bevor meine Mutter starb, hat ihre beste Freundin sich und ihren sieben Jahre alten Sohn umgebracht, eine Frau, die sich Ruth nannte, obwohl ihre Eltern sich im noch großdeutschen Jahr 1942 für den Namen Gertrude entschieden hatten. Das Haus, in dem sie wohnte, ein leicht protzig wirkender Neubau auf dem Grundstück einer älteren Villa, stand in unserer Nachbarschaft, Betonpalisaden trennten den Vorgarten vom Bürgersteig. Sie fuhr mit ihrem roten Renault R4 in die Garage, ließ den Motor laufen und verschloß die Tür, die aus der Garage ins Haus führte, verschloß auch das Garagentor, der Tank war voll. Es hieß, der Motor sei noch gelaufen, als sie gefunden wurde – aber wahrscheinlich stimmt das gar nicht, irgendwann fehlt auch dem Motor der Sauerstoff zur Verbrennung, erstickt der Motor schließlich selbst. Ihr Sohn Aaron Benjamin, ein jüdischer Vorname reichte ihr wohl nicht als Wiedergutmachung, saß festgeschnallt in seinem Kindersitz auf der Rückbank.
In einem anderen R4 waren sie und meine Mutter einmal bis nach Kabul gefahren, 1975 oder 1976 muß das gewesen sein, ich blieb in dieser Zeit bei meiner Großmutter. Und dieser Frau, einer Ärztin mit eigener Praxis, fiel nichts Besseres ein, als sich und
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