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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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Tisch, ich weiß nicht mehr, worüber wir geredet haben, über die schwierige Rebecca-Geschichte vermutlich nicht. Irgendwann, es war schon fast Abend, stand sie auf und fragte, ob ich jetzt duschen wolle, und sagte: Ich gehe ins Schlafzimmer, was ein wenig wie ich gehe schon mal ins Schlafzimmer klang, aber vielleicht hatte ich mich verhört. Ich zog mich aus, stellte mich in die Duschkabine, drehte das Wasser auf und wusch mir die Haare mit ihrem Shampoo, einem grünen Schauma-Shampoo, das auf einer Drahtablage stand. Als ich ins Schlafzimmer kam, lief der Fernseher, und sie räkelte sich halbnackt auf ihrer Doppelmatratze, die Schüssel mit den Weintrauben neben sich auf dem Kissen, die Reben fast nur noch Rebengerippe mit winzigen, hellgrünen Fruchtresten überall dort, wo eine Weintraube abgerissen worden war. Sie zupfte wieder eine ab und schob sie sich auf eine Weise in den Mund, die mich an Szenen in älteren deutschen, im Privatfernsehen gern wiederholten Erotikfilmen erinnerte. Ich wollte lachen, merkte dann aber, es war ihr ernst damit.

191
    Frisch gewaschen und in einem frischen Flügelhemd denke ich doch wieder daran, aus dem Fenster zu springen. Es geht so schön tief hinunter, das Fenster öffnet sich weit genug, ich müßte nur über die Brüstung klettern – am nächsten Morgen kein Fiebermessen mehr, und alles andere bliebe mir auch erspart.
    Mir fällt die Geschichte von Margits Mutter ein, Margit erzählte sie mir bald, wir kannten uns kaum länger als eine halbe Stunde. Ihre Mutter hatte ihren Vater eines Nachmittags so gegen halb sechs zum Einkaufen geschickt, er sollte nur rasch Brot und Aufschnitt besorgen, Margit selbst wohnte da schon seit Jahren nicht mehr in Wien bei ihren Eltern. Als ihr Vater mit den Lebensmitteln zurückkam, lag die Mutter tot auf dem Bürgersteig, sie war aus dem Fenster im vierten Stock gesprungen. Margit sagte, ihre Mutter habe ihren Vater nur deshalb zum Einkaufen geschickt, damit er nach ihrem Selbstmord etwas zu essen im Hause habe. So fürsorglich sei sie gewesen, über ihren Tod hinaus.
    An diesem Tag kann ich Margits Mutter gut verstehen. Nichts gefällt mir, alles geht mir auf die Nerven. Was soll das, warum liege ich hier? Bitte keinen Neuanfang mehr, bitte nicht weiter. Ich habe genug.

192
    Dabei müßte ich doch so dankbar sein, unendlich dankbar. Ich müßte so dankbar sein, wie es dankbarer nicht geht. Das Problem mit der Dankbarkeit, die ich eigentlich empfinden müßte: Sie müßte viel, viel größer sein. Aber ist das nicht überhaupt das Problem mit den ganz großen Geschenken? Sie lassen sich nicht erwidern. Sie machen klein. Wie sollte ich mich für mein Dasein bedanken? Demut, obwohl ich den lieben Gott hin und wieder darum bitte, halte ich nie lange durch. Dir müßte ich einen Dankesbrief schreiben, nicht deinen Hinterbliebenen. Oder schreibst du ihn dir selbst? Ich leih dir meine Hand.
    Wie war das noch mit der Tyrannei der Gabe, von der Marcel Mauss in seinem berühmten Buch spricht? Der Geber erlange durch seine Gabe eine magische, ja religiöse Macht über den Empfänger. Gehöre ich jetzt also dir?
    Später hat Jacques Derrida die Gabe neu definiert. Eine wirkliche Gabe sei nur eine Gabe ohne Gegengabe. Demzufolge wäre eine Organspende die perfekte Gabe, denn eine Gegengabe ist unmöglich.
    Immer wenn ich an Jacques Derrida denke, weil jemand ihn zitiert oder auch nur erwähnt, sehe ich wieder vor mir, wie wir beide, Jacques Derrida und ich, einmal nebeneinander gepinkelt haben. Das war in der Toilette der EHESS, der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Boulevard Raspail, unmittelbar vor seiner Vorlesung, zu der ich damals, Anfang der neunziger Jahre, in Paris jede Woche ging, der Saal eine Art Wallfahrtsort für Studenten aus aller Welt. Er stand schon da, als ich den Toilettenraum betrat, ich grüßte und stellte mich neben ihn, weil es da nur diese zwei Pissoirs gab, und bemühte mich sehr, es nicht so aussehen zu lassen, als schaute ich ihm auf den Schwanz. Ich mochte seine Vorlesungen, einmal aber, erinnere ich mich, wurde er ein wenig ungehalten, weil er das Kichern im Saal nicht deuten konnte, als er, das deutsche Wort verwendend, vom Spucken des deutschen Idealismus sprach. Nachdem er zum dritten oder vierten Mal Hegel spuckt gesagt hatte, klärte ihn jemand darüber auf, daß er doch besser spuken sagen solle. Nun spukt er hier bei mir herum.

193
    Und dann wird doch wieder Temperatur gemessen. Wieder ein neuer Tag

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