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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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im Krankenhaus, wieder ein Tag in meinem Leben, es müssen bald über dreizehntausend sein.
    Haben wir schon Fieber gemessen? Nein, natürlich nicht, ich schlafe ja noch. Jeden Morgen das gleiche Lied, und schon ist wieder Abend, und die Schwester kommt mit den Medikamenten für den nächsten Tag, verteilt die kleinen Plastikträger mit vier Fächern, morgens, mittags, abends, nachts, stellt auf jeden Nachtschrank einen. Auf der durchsichtigen Schiebelade, durch die ich die Pillen sehe, steht mein Name, das hilft mir, nicht zu vergessen, wie ich heiße.
    Ließen sich in leeren Medikamententrägern nicht gut Wasserfarben mischen? Vielleicht fange ich bald zu malen an, Klinikaquarelle und Krankenhausansichten: die Wand, den Baum, den Fernseher, den Schrank und den Schatten des Bettes auf dem Boden, die Sonne zeichnet oft sehr schöne Muster. Ja, ich habe plötzlich Lust, die Baumkronen vor meinem Fenster zu malen. Meine alten Bekannten, meine Freunde, ich freue mich jeden Tag, sie zu sehen. So grün, so voll, so dicht. Sie zu malen, am besten Blatt für Blatt, und ich wäre gut beschäftigt.
    Könnte therapeutisches Aquarellieren nicht helfen? Kein Wunder, daß in Rehakliniken Kurse in Korbflechten, Töpfern, Specksteinschnitzen und Aquarellmalerei angeboten werden – eine schöne Wolke, die Baumkronen und noch eine schöne Wolke malen, genau die da oben, dort am Himmel, die so verloren über dem Hubschrauberlandeplatz hängt.

194
    Meine Mutter hat während ihrer Krankheit gemalt, vielleicht gehörte das zur Therapie in der Anthroposophenklinik. Mehrere Malkurse hat sie besucht, Malen mit Pastellkreide, Ölmalerei und Aquarellieren, außerdem konnte sie einigermaßen zeichnen und wußte, was mich als Kind beeindruckte, wo schraffiert werden muß, um Lichtreflexe und Schatten zu setzen. Zeichnete sie einen Apfel, sah der wirklich aus wie ein Apfel, ja sie konnte sogar Pferde zeichnen, die tatsächlich wie Pferde aussahen. Meine Pferde sahen und sehen noch immer wie Schweine aus, wie Schweine mit langen Beinen.
    Andererseits, so stellt es sich mir heute dar, waren auch die Bilder meiner Mutter furchtbar: Möwen, die auf Zaunpfählen saßen. Sonnenuntergänge über einem Pastellkreidemeer. Sie ließ sie in einem Fachgeschäft teuer rahmen und hängte sie im Treppenhaus auf. Als sie tot war, nahmen wir sie wieder ab und trugen sie in den Keller. Mein Vater, sentimental war er nicht, warf sie später weg.
    Ich erinnere mich noch an den Gesichtsausdruck einer ihrer Möwen, ich glaube, die hatte sie auf Sylt gemalt. War sie dort auch, ich weiß es nicht mehr, in einer Klinik? Die Möwe, die auf einem Pfahl saß und aufs Meer hinausschaute, sah meiner Großmutter ähnlich. Meine Mutter, dachte ich, hat ihre eigene Mutter, kommt ein Vogel geflogen, als Möwe gemalt.

195
    Und zum Raum wird hier die Zeit. Singst du jetzt Parsifal ? Bist du das? Ja, die Zeit wird hier zum Raum, sie ist dieser Raum. Und alles, ganz gleich, wie lange her und wie weit entfernt, ist auf einmal wieder da, ganz nah, zum Greifen nah, ich müßte es nur fassen.

196
    Ich betrachte den Krankenhausboden und seine freundliche Farbe, das rauchgrau-blau-melierte Linoleum. Vielleicht wurde die abstrakte Kunst im Krankenhaus erfunden? Da, wo jemand genügend Zeit hatte, sehr lange etwas anzustarren? So lange, bis es jede Körperlichkeit verlor und nur noch Farbe war und die Farbe selbst zum Körper wurde? Ich staune, was ich in den Schlieren dieses Bodenbelags und auf der weißen Wand so alles sehen kann. Ich muß bloß zwei oder drei Stunden auf dieselbe Stelle starren, und jeder Gedanke und jede Erinnerung werden plastisch, lassen sich von allen Seiten ansehen, drehen und wenden, manchmal gehe ich sogar darum herum.

197
    Alexandra, deren Vater den Sanitätsfachhandel führte, ist in der Türkei ertrunken, in einem Hotelswimmingpool, obwohl sie eine gute Schwimmerin war. Ihr Mann stand am Beckenrand und bemerkte nichts. Sie waren mit ihren beiden Kindern im Urlaub, das jüngere, ein Mädchen, erst elf Monate alt. Sie hatte, ich höre es noch, so ein tolles Lachen. Ich höre es jetzt.

198
    Von einer Ärztin mit unglaublichen Mandelaugen, sie hat den Raum gerade verlassen, bleibt ein Duft im Zimmer. Trägt sie Parfüm? Ärztinnen riechen doch sonst nicht so. Ich rieche an meinen Fingern und versuche zu erschnüffeln, was für ein Duft es war, sie hat mir doch die Hand gegeben, ich rieche aber nur das Lifosan, die Waschlotion aus dem Hebelspender im Bad, die

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