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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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ich so gern verwende. Ich wasche mir oft die Hände, wahrscheinlich viel zu oft, und benutze auch die Desinfektionsflüssigkeit, ein Spender hängt im Bad neben dem Becken, ein anderer draußen auf dem Flur, gleich neben der Tür zu unserem Zimmer. Immer wenn ich daran vorbeigehe, drücke ich mit dem Ellbogen darauf, lasse den Alkohol in die offene andere Hand laufen und verreibe die Flüssigkeit, wie ich es auf den Abbildungen gesehen habe. Sieben- oder achtmal am Tag desinfiziere ich mir so die Hände, die Finger meiner linken wie der rechten Hand riechen nach Sterilium, nach Sterilium und Lifosan, meinen beiden Krankenhausparfüms.

199
    Wer roch wie? Julia roch nach Rive Gauche von Yves Saint Laurent, manchmal trug sie auch Chanel N° 19 oder N° 5. Eine Mitschülerin, das ist lange her, roch nach Patschuli. Und ich muß an Susanne denken, die nach L’Eau d’Issey roch, damals, als sie ein-, zweimal in der Woche morgens bei mir klingelte und vor der Haustür auf mich wartete. Dann ging es, ich zu Fuß neben ihr auf dem Fahrrad, zum Sportplatz, Laufen, zehn Runden, manchmal zwölf, ohne viel zu reden, sie innen, ich außen. Nach sieben oder acht Runden fielen wir auseinander, sie wurde schneller, setzte sich Kopfhörer auf und rannte davon. Erst nachher, während wir verschwitzt zurückgingen, unterhielten wir uns. Sie erzählte, was ihr Sohn, damals drei, dann vier Jahre alt, gerade angestellt oder wie sonderbar ihr Mann, bald ihr Ex-Mann, sich wieder benommen hatte. Oder daß sie, Fortsetzung ihres Frühsports, anschließend mit dem Fahrrad vom Zionskirchplatz bis nach Charlottenburg fahren werde, um ihren Therapeuten aufzusuchen, obwohl der ihr dann doch nur zu viel Bewegung riet und Fischölkapseln verschrieb, die sie alle zwei Monate hundertvierzig Euro kosteten. Sind das nicht sehr teure Placebos?, fragte ich sie einmal, woraufhin sie bloß sagte: Aber sie helfen mir doch. Wären sie billiger, täten sie das nicht.
    An der Kreuzung, an der die Mauer, als sie dort noch stand, einen Knick in den heutigen Mauerpark machte, küßten wir uns zum Abschied, sprachen aber nie, eigentlich absurd, über unser Verhältnis ein paar Jahre zuvor, als wir für einige Monate zusammengewohnt und immer wieder mal miteinander geschlafen hatten, sie eigentlich aber schon mit dem späteren Vater ihres Kindes zusammen war. Ihr L’Eau d’Issey stand auf einem Bord über dem Waschbecken im Bad.

200
    Ich rieche Regen durchs offene Fenster. Wasser allein riecht nie so. Ich rieche Regen und höre eine Amsel singen. Eine zweite Amsel antwortet, sie singen hin und her.

201
    Jemand hat mir mal erzählt, daß Ameisen mit Hilfe eines Duftstoffes verhindern, von anderen Ameisen für tot gehalten zu werden. Ameisen haben einen Lebensgeruch an sich, der sich bald nach ihrem Tod verflüchtigt. Ein Tier, das nicht mehr nach Leben riecht, wird von darauf spezialisierten Transportameisen aus dem Bau getragen, die Duftpolizei der Ameisen ist wachsam und streng. Nekrophorese heißt dieses Hygieneverhalten, tote Körper zu entsorgen, bevor der Verwesungsprozeß einsetzt; Nekrophorese wird von verschiedenen staatsbildenden Insekten praktiziert. Tote Ameisen, auch das habe ich behalten, riechen schon eine Stunde nach ihrem Tod nicht mehr nach Leben.
    Rieche ich denn noch nach Leben? Oder bin ich doch vielleicht schon tot? Müßten die Schwestern das nicht riechen? Die Mandelaugenärztin? Und mein Nachbar? Oder rieche ich jetzt vielleicht nach dir?
    Mich selbst kann ich nicht riechen, das Kind sagt gern: Du stinkst.

202
    Ich rieche Rosen hier im Krankenzimmer, aber hier stehen schon lange keine Blumen mehr, Blumen bringen zu viele Keime. Ich rieche Feigen, Lavendel, Flieder, Holunder und Lindenblüten – Lindenblüten im Juni möchte ich noch einmal riechen, nassen Strand, Rebeccas Nachthemd, einen warmen Felsen, trockenes Moos, Waldboden, Waldmeister, Julias Haar und Rosen, Rosen. Beerdigungen riechen doch nach Rosen, so geht meine Phantosmie.

203
    Der Geruch des Essens auf dem Flur. Die Tabletts warten in den geheizten Fächern des Thermowagens, Essen kommt dreimal am Tag, ein Pfleger trägt es herein und stellt es auf der ausklappbaren Ablage des Nachtschranks ab. Eine Kunststoffhaube mit einem runden Loch in der Mitte bedeckt die Menüschale und hält die Mahlzeit warm, das Suppenschüsselchen trägt einen Gummideckel, heute, ich schaue hinein, wieder passierte Gemüsesuppe, keine Brühe.
    Bevor ich die Haube von der Hauptmahlzeit hebe,

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