Leben im Käfig (German Edition)
es.
Andreas sprang so schnell von der Fensterbank, dass er beinahe über die eigenen Füße stolperte. Jeden Gedanken an Panik schob er brutal beiseite. Manchmal konnte er aufkommende Ängste im Keim ersticken, wenn sie überging und ihnen keinen Raum ließ. Es klappte nicht oft, aber manchmal. In aller Eile raste er nach unten und schaffte es, Ivana zuvor zu kommen. Er wollte die Tür aufreißen, aber mäßigte sich gerade noch. Was würde Sascha von ihm denken, wenn er ihm praktisch um den Hals fiel? Nein, das ging nicht. Um Selbstbeherrschung bemüht und sich an die Schmach des Mitleids erinnernd machte er langsam auf.
„Moin“, grüßte Sascha ihn süß grinsend, sodass Andreas ihn am liebsten am Hals gepackt und geküsst hätte.
„Selber moin“, gab er zurück und machte den Weg frei, damit sein neuer Freund ins Haus kommen konnte. Dass Sascha nicht einmal versuchte, ihm lediglich den Film in die Hand zu drücken und wieder zu gehen, registrierte er. Aber er war zu froh darüber, um es zu hinterfragen. Als er dabei zusah, wie Sascha selbstbewusst den Weg in den ersten Stock einschlug, blieb Andreas ein weiteres Mal der Speichel zum Schlucken weg. Das lief gut, wirklich gut. Wenn er nur nicht so verflucht nervös wäre ... Immer zwei Stufen auf einmal nehmend folgte Andreas seinem Gast und führte ihn in sein Zimmer.
„Es war wirklich eine Bildungslücke“, gab Sascha zu und drückte Andreas die DVD in die Hand. „Super Film.“
„Habe ich ja gesagt“, krächzte Andreas und ärgerte sich über seine versagende Stimme. „Gut, ich habe noch mehr Bildungslücken, glaube ich. Du hast doch Zeit, oder?“
„Sicher.“ Mehr wagte er nicht zu erwidern. Bei mehr als drei Silben oder gar zusammenhängenden Sätzen begann er bestimmt zu stottern.
„Cool.“ Sascha nickte zufrieden, sah sich mit leuchtenden Augen um und warf sich unerwartet und mit größter Selbstverständlichkeit auf das breite Bett – logisch, eine andere Sitzgelegenheit gab es außer dem Schreibtischstuhl nicht. „Was machen wir? Konsole, Film oder quatschen?“
Andreas kam sich vor, als hätte ihn eine Herde Wildpferde in den Staub getrampelt. Stocksteif stand er im Türrahmen und starrte auf den verlockenden Anblick vor ihm. Sascha war vorbeigekommen. Okay. Er wollte bleiben. Noch besser. Aber dass er sich jetzt auf der mit roter Wäsche bezogenen Matratze räkelte, erleichterte die Situation nicht.
Ein Junge ... in meinem Bett, japste Andreas innerlich. Und er hat keine Ahnung, was er mit mir macht. Er musste sich beruhigen, Zeit gewinnen.
„Ich hole uns erst mal was zu trinken“, rettete er sich und setzte zur Flucht an. Elegant gelöst. Sein erster Weg führte ihn jedoch nicht in die Küche, sondern ins Badezimmer. Schnell schloss er hinter sich ab und ließ sich auf die Toilette fallen. Er vergrub den Kopf in beiden Händen und versuchte, dem Wirrwarr in seinem Inneren eine Struktur zu geben. Was war mit ihm los? Panik, natürlich war er in Panik. Er kannte sich und seine Ängste. Im Bus, auf dem Marktplatz, im Supermarkt, im Klassenraum.
Nur ... es fühlte sich anders an. Es fühlte sich nicht an wie das, was er erlebte, wenn er nach draußen gehen musste. Es war wild und unkontrolliert, aber anders.
Ein merkwürdiger Gedanke huschte durch Andreas' Hinterkopf. Hatte er überhaupt Angst? Wirklich Angst? War das hier das, was er erlebte, wenn seine Beine versagten, wenn er in den Garten ging? War es der alles andere auslöschende Fluchtinstinkt, der ihm überkam, wenn er das Wartezimmer des Arztes betreten musste? Nein. Er hatte keine Ahnung, warum nicht, aber es war anders. Ja, er hatte Sorge, dass er sich zum Depp machen könnte, hatte Angst, dass Sascha sich von ihm abwandte, wenn sie sich besser kennenlernten. Fürchtete, dass seine sinnlichen Fantasien an seiner Stirn abzulesen waren. Aber er hatte keine Panik.
„Ich glaub, ich steh im Wald“, wisperte er in seine Hände hinein. Ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht besser wäre, mehr über sich selbst zu wissen. Mehr über die Krankheit, von der die Familie einstimmig beschlossen hatte, dass er sie gar nicht hatte. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen. Jetzt hatte er einen Gast und den wollte er nicht länger als nötig allein lassen. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass er sich beim Fernsehen auf den Bauch legen musste, um gewisse körperliche Reaktionen zu verbergen. Das war im Verhältnis zu dem, was er sonst
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