Leben Ist Jetzt
zu jammern, dass jetzt niemand da ist, mit dem ich sprechen kann. Ich spüre mich selbst. Und in mir, in meinem Leib, ist es
angenehm. Ich bin daheim bei mir, weil ich ahne, dass in mir mehr ist als meine Lebensgeschichte. In mir wohnt ein Geheimnis, das mich übersteigt. Das ist
letztlich Gott. Aber dort, wo er in mir wohnt, bin ich zugleich ganz ich selbst. Da bin ich frei von den Erwartungen der Menschen, von ihren Urteilen und
Verurteilungen. Da bin ich heil und ganz. Dort kann mich niemand verletzen. Dort bin ich ursprünglich. Wer diese Erfahrung macht, der ist in seinem
Inneren angekommen, der ist bei seinem wahren Selbst angelangt. Und dort fühlen wir uns daheim.
Festhalten an überkommenen Formen und innere Freiheit sind keine Gegensätze
Viele alte Menschen sind konservativ und möchten, dass die alten Rituale gefeiert werden. Andere fühlen sich im Alter freier als
früher. Es ist immer gut, nicht ängstlich nur auf die Verlautbarungen anderer zu schauen, sondern seiner inneren Freiheit, dem eigenen Gefühl zu
trauen. Ich habe bei meiner Mutter erlebt, dass sie im Alter immer freier geworden ist. Sie war immer eine gläubige Katholikin. Die Treue zum Papst und
zur Kirche war für sie klar. Aber im Alter sagte sie öfter, wenn sie in der Zeitung etwas vom Papst las: „Der Papst hat auch nicht immer Recht.“ Sie
traute einfach ihrem Gefühl und ihrer Lebenserfahrung, die nicht mehr mit dogmatischen Engführungen zusammenpasste. Die Erfahrung mit den Menschen in
ihrem langen Leben hat sie weit gemacht. Diese Weite ist eine Folge der Lebenserfahrung und eine Kraft des Herzens, die innere Freiheit gibt, aber auch
auf die anderen Menschen ausstrahlt. Sie ist ein Zeichen von Lebendigkeit
Aber zugleich hat meine Mutter die alten Rituale geliebt. Sie ist jeden Tag in den Gottesdienst gegangen und hat gerne die alten
Kirchenlieder gesungen. Und sie hatte für sich selbst viele persönliche Rituale, mit denen sie den Tag bewältigt hat. Es gab also keinen Gegensatz
zwischen ihrer inneren Freiheit und denalten Ritualen. Ängstlichkeit macht eng. Doch wenn ich das Gefühl habe, dass mir die alten
Rituale gut tun und mir Anteil an der Glaubenskraft meiner Vorfahren geben, dann ist das eine gesunde Tradition, die mir ein Gespür für die tiefen Wurzeln
gibt, die mein Leben befruchten. Die Rituale vermitteln mir eine Geborgenheit, von der aus ich die Dinge mit innerer Freiheit beurteilen kann. Wer eng an
bestimmten Aussagen festhält, der hat Angst, dass sein Lebensgebäude zusammenbricht, wenn er anders denkt. Wer aber in Gott zu Hause ist, hat auch Anteil
an seiner Freiheit. Er vermag in Freiheit nachzudenken über sein Leben, über die Menschen und auch über den Glauben.
Selbstvertrauen kann auch im Alter noch wachsen
Natürlich gibt es Menschen, die als Kind wenig Selbstvertrauen hatten und sich auch als Erwachsene schwer damit tun, Vertrauen zu
einem anderen Menschen aufzubauen. Sicher wird das mangelnde Vertrauen in der Kindheit sich auch jetzt im Alter auswirken. Solche Menschen werden manchmal
eine gewisse Ängstlichkeit spüren, wenn etwas Neues auf sie zukommt. Und sie werden auch weiterhin eher misstrauisch den Menschen begegnen. Dennoch sind
wir durch unsere Kindheit nicht einfach festgelegt. Wir können auch im Alter noch etwas lernen. Jetzt im Alter haben wir es nicht mehr nötig, uns zu
beweisen. Wir brauchen nicht mehr die Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Das Alter will uns zur inneren Freiheit und Gelassenheit führen. Und in dieser
Haltung ist es leichter, zu vertrauen. Ich habe viele alte Menschen erlebt, die in ihrer Jugend schüchtern waren. Im Alter wurden sie nicht einfach
Menschen, die eine ganze Gesellschaft unterhalten konnten. Aber sie ruhten in sich. Und es war ihnen nicht mehr so wichtig, ob sie sich im Gespräch mit
anderen geschickt oder ungeschickt anstellten.
Der frühere Abt unseres Klosters Münsterschwarzach, Abt Bonifaz, bat mich im Jahre 1981, monatlich für die jungen Menschen eine
Jugendvesper zuhalten. Er hatte auf einem Äbtetreffen von guten Erfahrungen mit Jugendvesper gehört. Ich lud ihn ein, doch selbst
einmal bei der Jugendvesper predigen. Aber er lehnte es immer ab. Als wir acht Jahre später die 100. Jugendvesper hielten, lud ich ihn wieder
ein. Inzwischen war er als Abt zurückgetreten. Und dann hielt er vor den jungen Menschen eine bewegende Predigt. Er meinte, Pater Anselm habe ihn schon
früher
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