Leben Ist Jetzt
geht aber darum, sich der
Zeit bewusst zu werden, sie wahrzunehmen und sie als wertvolle Zeit zu leben.
Der Philosoph Ernst Bloch pries das Alter als eine kostbare Zeit. In ihr wächst nämlich sowohl der Wunsch als auch die Fähigkeit, „das Wichtige zu
sehen, das Unwichtige zu vergessen: dergleichen ist eigentliches Leben im Alter.“ Viele meinen, die Zeit des Alters sei weniger wert, weil wir vieles
vergessen. Doch Bloch betont, es gehe darum, das Unwichtige zu vergessen und offen zu werden für das Eigentliche, für das, was wirklich wichtig ist in
unserem Leben. Wenn wir offen werden für das, was wirklich zählt, dann wird auch unsere Zeit kostbar. Dann werden wir uns in der Zeit, die uns verbleibt,
unseres eigenen Wertes bewusst. Wir sind einmalig. Und die Zeit, die uns gegönnt ist, ist einmalig.
Wenn wir im Alter fähig werden, die Zeit zu genießen, ganz in der Gegenwart zu sein, dann wird sie uns nicht weniger werden und uns
nicht durch die Finger rinnen. Sie wird uns in jedem Augenblick geschenkt. Zeit verwandelt sich in Ewigkeit, wenn wir ganz im Augenblick sind. Dann gibt
es oft Momente, in denen Zeit und Ewigkeit zusammen fallen, in denen die Zeit still zu stehen scheint. Das ist dann nicht der Stillstand der Zeit im Sinne
von Langeweile, sondern von Intensität. Wir berühren in der Zeit schon die Ewigkeit, die Fülle des Lebens.
Die Kunst des Älterwerdens besteht also auch darin, die Zeit auf neue Weise zu erleben, nicht mehr als Gegner, sondern als Freund. „Kostbar ist mir
jeder Tropfen Zeit“ hat der hl. Augustinus bei seinem Nachdenken über die Zeit geschrieben. Und der alttestamentliche Weise Kohelet hat erkannt: „Alles
hat seine Stunde. Für jedes Geschehen gibt es eine bestimmte Zeit.“ (Koh 3,1) Im Älterwerden sollten wir dem Geheimnis der Zeit nachspüren. Dann werden
wir erkennen, dass unsere Zeit in die Ewigkeit Gottes mündet. Nur Gott ist der Zeit enthoben. Solange wir leben, leben wir in der Zeit. Aber in der Zeit
strahlt immer wieder schon Gottes Ewigkeit auf.
Es gibt eine erfüllte Zeit auch jenseits der Terminplaner
Oft hört man von Menschen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, den Satz: „Früher habe ich nur mit dem Terminplaner gelebt. Ich
musste meine Termine genau einteilen. Manchmal war das eine Last. Aber jetzt ohne Terminplaner zu leben ist auch nicht so einfach.“ Manche, die diese
Erfahrung machen, fragen, was sie tun können, damit ihr Alter keine vergeudete, ungenutzte Zeit wird. Wie kann man im Alter die Zeit auf neue Weise
erfahren?
Unsere Terminplaner haben den Sinn, dass wir unsere Zeit gut nutzen. Wir strukturieren unseren Tag so, dass wir die wichtigen Aufgaben in der uns zur
Verfügung stehenden Zeit bewältigen können. Ältere Menschen brauchen ihre Zeit nicht mehr bis zum letzten zu verplanen, denn sie müssen nicht mehr
möglichst viel leisten. Aber trotzdem ist es gut, wenn sie ihrer Zeit eine gute Struktur geben. Jeder sollte sich einen guten Rhythmus für seinen Tag
auswählen. Die Abwechslung, die wir durch den Rhythmus in den Tag bringen, tut uns gut. Vergeudet wäre die Zeit, wenn sie mit Nichtigkeiten gefüllt wäre,
mit ständigen Nörgeleien, Ärger und Streit. Im Alter müssen wir zwar nichts mehr leisten, aber es wäre gut, die Zeit bewusst zu leben. Es ist eine Kunst,
die wir jetzt im Alter lernen sollen: ganz im Augenblick zu sein, uns auf die Gesprächeeinzulassen, die wir führen, die Begegnung mit
Menschen zu genießen, uns Zeit für den anderen zu lassen. Aber die Zeit ist auch eine erfüllte Zeit, wenn ich lese, was mich interessiert, wenn ich Musik
höre oder mich an einem Spaziergang freue. Wenn wir wirklich leben, ist die Zeit immer eine erfüllte Zeit.
Jesu erstes Wort, das uns der Evangelist Markus überliefert, war: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.“ (Mk 1,15) Die
Zeit – so meint also Jesus – ist erfüllt, wenn Gott über mich herrscht und nicht mehr der Termindruck oder die Erwartungen der Menschen. Im
Alter muss ich nicht mehr die Erwartungen anderer erfüllen. Ich darf selber leben. Das Reich Gottes könnte man als den Raum bezeichnen, in dem ich ganz
ich selbst sein darf, in dem ich selber leben darf, anstatt gelebt zu werden. Wer ganz im Augenblick ist und bewusst diesen einen Augenblick lebt, der
erfährt Zeit als erfüllte Zeit. Es ist keine vergeudete Zeit, keine ungenutzte Zeit, aber auch keine Zeit, die unter dem Druck
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