Leben Ist Jetzt
kann.
Herrmann Hesse hat diese Hoffnung in seinem bekannten Gedicht „Stufen“ formuliert. Er beschreibt eine Sicht des Lebens, das sich von
Stufe zu Stufe wandelt, das Veränderung der Lebenskreise aber gleichzeitig auch Vervollkommnung in immer neuem Anfang ist:
„Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals
enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Die letzte Lebenswirklichkeit
Nach meiner Erfahrung tut es dem Menschen nicht gut, wenn er sich weigert, sich über den Tod Gedanken zu machen. Alle Philosophie
beginnt mit dem Nachdenken über den Tod. Wer den Tod verdrängt, der lebt nicht in der Gegenwart, sondern er klammert sich an die Gegenwart. Denn er
verdrängt etwas, das zu seinem Leben gehört. Der Tod zeigt, dass mein Leben endlich ist. Und die Endlichkeit verändert mein Leben. C. G. Jung meinte
einmal, ab der Lebensmitte bleibe nur der lebendig, der zu sterben bereit ist. Wer den Tod ausklammert, der klammert ein Lebensgesetz aus. Sich mit dem
Tod anzufreunden, ist höchste Lebenskunst. Denn der Tod intensiviert das Leben. Schon Mozart hat in einem Brief an seinen kranken Vater geschrieben, dass
er den Tod als Freund betrachte, über den er täglich nachdenke. Und dieser Gedanke an den Tod sei für ihn der Schlüssel zur Glückseligkeit. In seiner
Musik merkt man, dass er den Tod überwunden hat. Seine Musik verbindet Himmel und Erde miteinander, Leben und Tod. Gerade dadurch bekommt sie auch das
Heitere mitten in der Melancholie, die immer auch bei ihm herauszuhören ist.
Unser Leben endet im Tod. Wenn ich das verdränge, dann tue ich so, als ob ich ewig leben würde. In der Barockzeit hat man sich sehr intensiv mit dem
Tod auseinandergesetzt. In der Kirche war oft derSensenmann dargestellt. In den Kantaten von Johann Sebastian Bach gibt es immer wieder
Arien, die die Überwindung des Todes darstellen. So singt der Alt in der Weihnachtskantate BWV 64: „Von der Welt verlang ich nichts, wenn ich nur den
Himmel erbe.“ Und in der Kantate „Meinen Jesum lass ich nicht“ (BWV 124) singen Alt und Sopran im Duett: „Entziehe dich eilends, mein Herze, der
Welt. Du findest im Himmel dein wahres Vergnügen.“ Solche Lieder sind nicht Ausdruck von Weltflucht. Die Barockzeit war ja beides: eine Zeit, die das
Diesseits liebte und die den Tod allgegenwärtig wusste. Die Spannung von diesseitiger Sinnlichkeit und dem Bewusstsein von der Majestät des Todes hat
diese so lebendige Kultur hervorgebracht.
Schon die frühen Mönche raten uns, den Tod ständig vor Augen zu haben. Ein Altvater wurde gefragt, warum er nie Angst habe. Er meinte, weil er
täglich über den Tod meditiere. Der Gedanke an den Tod nimmt also alle Angst. Er lässt uns gelassen und dankbar die Tage leben, die uns Gott schenkt. Auch
der hl. Benedikt mahnt uns Mönche, dass wir uns täglich den Tod vor Augen halten sollen. Das gehört für ihn zum spirituellen Weg. Es ist die Einladung,
Lust am Leben zu haben und zu schmecken, wie das Leben sich anfühlt. Tod und Leben gehören eng zusammen. Es gibt Märchen, die davon erzählen, dass man den
Tod letztlich nicht überlisten kann. Im Märchen „Der Gevatter Tod“ macht der Tod denSohn, dem er bei der Taufe als Gevatter dient, zu
einem berühmten Arzt. Aber als der Arzt den Tod überlisten möchte, muss er selbst sterben. Das Märchen „Die Boten des Todes“ zeigt, dass der Tod uns
ständig Boten schickt, die uns an das nahende Ende erinnern: die Krankheit, das Fieber, den Schwindel. Und zuletzt benennt der Tod den Schlaf: „Hat nicht
mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert?“
Im Alter mehren sich die Boten des Todes, die uns daran erinnern, dass wir endlich sind. Wir sollten uns von ihnen einladen lassen,
bewusst zu leben. Der Tod will das Leben verstärken. Er will uns nicht von der Welt wegziehen, damit wir uns nur noch mit dem Tod beschäftigen. Vielmehr
will uns der Gedanke an den Tod einführen in die Kunst des Lebens. Richtig lebt nur der, der sich seiner Begrenztheit bewusst ist. Er versteht, dass
dieses Leben einmalig und einzigartig ist. Der Tod gibt dem Leben seine Würde. Es ist nicht einfach ein Dahinleben. Wenn ich nur einmal lebe und nur in
dieser Zeit, die mir bis zum Tod bleibt, dann will ich ganz leben, intensiv leben, dann möchte ich den Geschmack des Lebens auskosten. Und ich bin mir
meiner
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