Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
stehen.«
»Ehrlich?«, sagt Lizzy offensichtlich geschmeichelt, obwohl ich mir keinen Grund dafür vorstellen kann. Bevor sie die Adresse des nächstgelegenen Piercing-Ladens mitgeteilt bekommt, greife ich ein und frage: »Warum kaufst du eigentlich so viele Schlüssel?«
Das Mädchen lacht. »Wer seid ihr, die Flohmarktpolizei? Ich arbeite an einem Kunstprojekt. Bisher habe ich ungefähr hundert Schlüssel«, brüstet sie sich. »Manchmal mache ich auch Schmuck draus. Wollt ihr mal sehen?« Sie schiebt ihre langen schwarzen Haare von einem Ohr weg. Ein winziger silberner Schlüssel baumelt an einem Haken. »Der stammt von meinem Tagebuch in der fünften Klasse!«
»Cool«, sagen Lizzy und ich, denn was sollten wir dazu auch anderes sagen?
»Sonst noch Fragen?«, erkundigt sich das Mädchen und lässt ihre Haare übers Ohr zurückfallen.
Wir verneinen, und sie wendet sich wieder dem Tisch zu, von dem sie sich eine weitere Schale mit Schlüsseln holt. Und wenn nun die Schlüssel zur Kassette meines Dads bereits Teil irgendeines
Kunstprojekts sind? Oder an den Ohren irgendeines Mädchens hängen? Was ist nur aus den guten, alten Zeiten geworden, in denen die Leute Schlüssel zu einem einzigen Zweck besitzen wollten, nämlich um Schlösser damit zu öffnen? Wir haben das letzte Karree auf dem Markt erreicht, als Lizzy wie angewurzelt stehen bleibt und mich am Arm packt. »Schau mal!«
Ich folge ihrem Blick zu einem kompletten Tisch mit – wie es aussieht – allen Arten von Schlüsseln und Schlössern in durchsichtigen Plastikbehältern. Wir sprinten dorthin und rempeln dabei den einen oder anderen Kunden weg. Das ist der reine Schlüsselhimmel! Kleine Schlüssel, lange Schlüssel, dicke Schlüssel, kurze Schlüssel. Alte, rostige Schlüssel, funkelnagelneue Schlüssel. Meine Augen können diese Fülle vor uns gar nicht auf einmal fassen.
»Wo fangen wir an?«, frage ich Lizzy benommen.
Sie schüttelt nur den Kopf, sie ist ebenso überwältigt.
Ein älteres Paar sitzt hinter dem Tisch in zwei identischen Schaukelstühlen. Sie sehen aus, als gehörten sie eher auf eine Landhausveranda als nach Lower Manhattan. Der Mann kaut an einer Pfeife und scheint unbeeindruckt von dem ganzen hektischen Treiben um ihn herum. Die Frau wedelt mit einem Papierfächer, um sich Kühlung zu verschaffen, während sie im Schneckentempo vor- und rückwärts schaukelt.
»Wissen Sie was?« Ich kann nicht umhin, der Frau dies mitzuteilen. »Studien haben bewiesen, dass ein Fächer tatsächlich mehr Energie verbraucht, als der von ihm ausgehende Luftstrom erzeugt. Das heißt, in Wirklichkeit wird Ihnen noch wärmer.«
»Was hast du gesagt?«, fragt sie und neigt mir ihr eines Ohr entgegen.
Lizzy schubst mich beiseite. »Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagt sie laut. Zu mir gewandt, sagt sie: »Können wir ihnen die Kassette zeigen? Sonst verbringen wir womöglich Stunden hier, und ich weiß , dass du nicht im Dunkeln mit der U-Bahn nach Hause fahren willst.«
Ich winde meine Arme unter den Trägern des Rucksacks hervor und öffne den Reißverschluss. Lizzy nimmt mir die Kassette ab und stellt sie behutsam auf den Tisch. Das Paar lehnt sich in seinen Schaukelstühlen nach vorne und betrachtet die Kassette interessiert.
Der alte Mann nimmt die Pfeife aus dem Mund und klopft sie auf der Tischkante aus, sodass der verbrannte Tabak nach unten auf den Asphalt fällt. »Das ist eine mächtig hübsche Kassette, die ihr da mitgebracht habt«, sagt er mit sanfter Stimme.
»Glauben Sie, Sie haben Schlüssel, mit denen man sie aufschließen kann?«, frage ich erwartungsvoll.
»Hmmm«, sagt er nachdenklich. »Habt ihr etwas dagegen, wenn ich sie mir genauer anschaue?«
Ich schiebe ihm die Kassette hin, er hebt sie hoch und dreht sie ein paarmal hin und her. Zu den hineingeschnitzten Worten stellt er mir keine Fragen. Er murmelt nur irgendetwas vor sich hin, dass er eine solche Kassette seit Jahren nicht mehr gesehen hat und gutes Handwerk eine aussterbende Kunst ist.
»Haben Sie denn schon mal so eine Kassette gesehen?«, frage ich. Dann schaue ich Lizzy an und sage: »Wenn wir den Hersteller fänden, könnten wir bestimmt auch Schlüssel von ihm bekommen!«
»Aber Larry junior hat gesagt, es ist kein Name auf der Kassette«, erwidert sie.
Der alte Mann nickt bestätigend. »Die hier ist handgefertigt.
Ich kannte mal einen, der hat zusammen mit seiner Frau solche Sachen verkauft. Aber sie haben sich vor ein paar Jahren vom Flohmarkt
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