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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Mass
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oder eine Schwester. Ich wette, er hatte Träume, von denen ich nie etwas erfahren habe. Ist es das , was in der Kassette steckt? Träume von einem Leben, das er nicht mehr leben konnte?
    Der Wagen hält, ich schlage die Augen auf und sehe Lizzy, die vergnügt an einer Erdbeere knabbert. »Möchtest du auch eine?«, fragt sie und hält mir die Schachtel hin.
    Ich schüttle den Kopf. Frisches Obst erinnert mich bloß an
Süßigkeiten mit Fruchtgeschmack wie Starburst oder Mentos und an die Tatsache, dass ich momentan keine dabeihabe.
    James öffnet die Tür und wir treten auf den sonnigen Gehsteig. Ich hatte erwartet, dass er uns zu einem Pfandleihhaus in einem alles andere als erstrebenswerten Teil der Stadt bringen würde. Stattdessen stehen wir vor einem dreistöckigen Sandsteinhaus am noblen Riverside Drive in der Upper West Side. Bevor ich mein Erstaunen zum Ausdruck bringen kann, öffnet sich die Haustür, und es erscheint ein hochgewachsener alter Herr in braun gestreiftem Anzug und dazu passendem Hut. Er raucht eine Pfeife. Aus irgendeinem Grund scheint seine Kleidung nicht zu dem Rest zu passen. Sollte er mit seinem rötlichen runden Gesicht nicht eher einen Overall und dazu einen Strohhut tragen?
    »Da haben wir also unsere kleinen Schwänzer«, sagt er streng. Das Funkeln in seinen Augen verrät mir, dass er nicht wirklich böse ist.
    Lizzy, die Vorwürfe noch nie auf die leichte Schulter genommen hat, sagt: »Ich denke, um ein Schwänzer zu sein, muss man Schulstunden schwänzen, aber jetzt im Sommer ist keine Schule.«
    »Wie recht Sie haben, junges Fräulein«, sagt er und deutet mit der Pfeife auf sie. »Ich werde meine Worte sorgfältiger wählen müssen.«
    »Schon in Ordnung«, sagt sie.
    »Bitte sehr.« Er tritt zur Seite, damit wir ins Haus können. »Machen wir uns miteinander bekannt.«
    James eskortiert uns die Treppe hoch ins Haus. Ein schmaler Eingangskorridor mündet in einen riesigen Raum, der mit großen Kartons und Holzkisten vollgestellt ist. Es sieht so aus,
als wäre das meiste hier schon eingepackt. Ein paar Bilder hängen noch an den Wänden, aber die komplette Einrichtung ist verschwunden. Die holzvertäfelte Decke ist so hoch, dass das ganze Haus offenbar nur aus diesem einen Geschoss besteht, nicht aus dreien, wie ich angenommen hatte. In einem riesigen Kamin an der hinteren Wand brennt wahrhaftig ein Feuer, obwohl schon beinahe Juli ist.
    »Alte Knochen brauchen Wärme«, sagt Mr Oswald, der meinem Blick gefolgt ist. »Eben deswegen ziehe ich ja nach Florida. Gehen wir in mein Büro, dann werde ich erläutern, was Sie zu tun haben.«
    Eine dralle Frau mit Schürze taucht am anderen Ende des Raums auf und er übergibt ihr seine Pfeife. Sie übergibt ihm im Gegenzug seine Post. Mr Oswald sagt liebevoll: »Ohne Mary, meine Haushälterin, würde in diesem Haushalt alles zum Erliegen kommen.« Mary lächelt uns an, und ich entdecke einen Schokoriegel von Hershey’s, der aus einer ihrer Schürzentaschen ragt. Ich lächle zurück. Sie ist eindeutig eine Gleichgesinnte. Lizzy ist zu sehr damit beschäftigt, den Inhalt einer großen, offenen Holzkiste zu betrachten, um irgendetwas mitzubekommen.
    Mr Oswald führt uns sorgsam durch das Labyrinth von Kartons in einen Raum, der halb so groß ist wie der erste. Er hat ebenfalls einen Kamin, aber hier brennt kein Feuer. In der Mitte steht ein ausladender Eichenholzschreibtisch mit großen Ledersesseln davor. Regale, auf denen Gegenstände jeder Größe und Farbe aufgereiht liegen, säumen zwei Wände des Raums. Ich sehe Sportzubehör wie Basebälle, Baseballschläger, Fußbälle und Hockeyschläger, aber auch Lampen, Uhren, Bilder, Skulpturen, reihenweise Bücher, ein Teleskop, Radios,
Schmuckkassetten, Stapel von Klarsichthüllen mit Briefmarken, Kästen mit alten Münzen. Im Prinzip alles, was es unter der Sonne gibt. Ich denke mir, das muss die Vorstellung meiner Eltern vom Paradies sein. Es bedarf einer gezielten Anstrengung, meinen Mund wieder zuzubekommen. Mir wird bewusst, dass ich keinen Ton gesagt habe, seit wir angekommen sind, also räuspere ich mich. »Ähem, Mr Oswald?«
    »Ja, Mr Fink?«, sagt er und lässt sich hinter dem Schreibtisch nieder.
    Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Bisher habe ich immer nur gehört, wie mein Dad und mein Onkel als Mr Fink tituliert wurden. Ich weiß auch nicht, wieso es mich überrascht, dass die Leute mich mit zunehmendem Alter bei demselben Namen wie meinen Vater rufen, aber so ist es

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