Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
ist sie offenbar zu begeistert, um sich darum zu kümmern.
»Ich heiße James. Ich komme, um Sie zu Mr Oswald zu bringen«, sagt er. »Und Sie sind Mrs Fink, nehme ich an?«
Mom bejaht und fragt nach Unterlagen von den Leuten, die das mit den Sozialstunden regeln. Lizzy und ich tauschen mit aufgerissenen Augen Blicke aus, klettern von den Treppenstufen herunter und warten neben dem Auto, bis Mom uns grünes Licht gibt.
»Benehmt euch, ihr zwei«, sagt sie und tritt auf die Bordsteinkante zurück.
Ich wundere mich, dass sie von der Luxuslimousine nicht stärker überwältigt ist. Mr Oswald muss ihr vorher gesagt haben, dass wir auf diese Weise befördert werden. Hat sie mir das versehentlich zu erzählen vergessen?
»Hast du deine Sandwichs?«, fragt sie.
»Ja, Mom«, sage ich und erröte, weil James uns zuschaut. Als sie einen Schritt zur Seite macht, öffnet James uns die hintere Tür. Lizzy steigt in den Wagen und ich folge ihr in den total irren Innenraum. Ich kann noch immer nicht glauben, dass wir allen Ernstes in einer Luxuslimousine durch die Stadt chauffiert werden!
Die Sitze sind cremefarben und ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so weich gesessen. Obwohl heute ein heller, sonniger Tag ist, ist das Licht in der Limousine gedämpft, weil die Scheiben getönt sind. Ein kleiner Kühlschrank ist neben der Wagentür eingebaut, zusammen mit einem Fernseher und einem Radio. Gegenüber von uns befindet sich eine weitere,
lange Sitzreihe und ich lege sofort meine Füße darauf. Lizzy reicht mit den Beinen nicht so weit. Wir entfernen uns von unserem Haus und ich winke Mom im Wegfahren zu, aber sie sieht uns vermutlich nicht durch die Scheiben.
Lizzy öffnet die Kühlschranktür. »Schau mal! Erdbeeren! Saft! Mineralwasser in Glasflaschen! Ist das zu glauben?«
Ich schüttle den Kopf und lehne mich in den schicken Sitz zurück, so, als wäre ich ein luxuriöses Leben gewöhnt.
»Mannomann«, sagt Lizzy. »Wenn ich geahnt hätte, dass Sozialstunden so aussehen, dann hätte ich uns schon vor Jahren in ernste Schwierigkeiten gebracht!«
Bei der ersten roten Ampel gleitet die Innenscheibe, die uns von James trennt, langsam nach unten. Er wendet den Kopf und schaut uns an. »Ich nehme an, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragt er mit einem leisen Lächeln auf dem Gesicht.
Lizzy schraubt eine Cola-Flasche auf und fragt: »Ist Mr Oswald richtig, richtig, richtig stinkreich?«
James lacht. »Er ist recht gut situiert.«
»Ich wusste nicht, dass Pfandleiher so viel Geld verdienen«, sage ich.
James richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße und schüttelt den Kopf. »Ach, das ist nur ein Nebenberuf. Es war früher das Geschäft seiner Familie. Mr Oswalds Hauptberuf besteht darin, Antiquitäten zu verkaufen. Er hat ein Händchen dafür, Antiquitäten zu finden, sie zu restaurieren und wesentlich teurer zu verkaufen, als er sie eingekauft hat.«
»Wo findet er sie?«, frage ich interessiert.
»Überall«, sagt James. »Flohmärkte, Antiquitätenmessen, Auktionshäuser. Manchmal sogar auf der Straße. Die Leute wissen nicht, was sie da besitzen, und werfen es einfach hinaus.«
Lizzy wendet sich zu mir, und ich weiß, was sie sagen wird, bevor sie es ausspricht. »Klingt, als hätten er und dein Vater sich bestens verstanden.«
Ich nicke. »Bloß hat mein Dad nie Dinge repariert, um sie dann zu verkaufen, sondern nur, um sie selbst zu benutzen.«
»Vielleicht hätte er’s später getan«, sagt sie.
Ich schaue zu, wie die gläserne Trennscheibe langsam wieder hochfährt.
»Vielleicht«, sage ich und schließe die Augen. Als Dad gerade gestorben war, schrieb ich in einer Liste alle Dinge auf, die ich erlebte und die er jetzt nicht mehr mitbekommen würde. Zum Beispiel, als ich beim Baseball in der Schule einen Homerun schaffte (nur einmal, aber es ist tatsächlich passiert), oder als ich in der sechsten Klasse einen Preis für eine Kurzgeschichte gewann, in der ein Junge eine Ameise mit seinem Vergrößerungsglas verbrennt, und in jener Nacht brennt sein Zuhause nieder, und er weiß, dass er allein schuld ist. Aber in der Liste ging es immer um mich. Ich überlegte nie, was mein Vater mit seinem eigenen Leben angestellt oder nicht angestellt hätte, hätte er eine Chance dazu gehabt. Vielleicht hätte er einen Teil der Sachen, die er fand, verkauft und damit ein Vermögen gemacht. Oder Fink’s Comics zu einer ganzen Ladenkette erweitert. Womöglich hätte ich jetzt sogar einen Bruder
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