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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Mass
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nicht bei Mr Oswald bestellt? Bei dem Antiquitätenhändler?«
    »Antiquitäten?«, wiederholt sie. »Nein. Ich habe seit Jahren nicht eine einzige Antiquität gekauft.« Sie beugt sich vor, als wollte sie uns ein Geheimnis anvertrauen. »Um ehrlich zu sein, sie sind mir unheimlich.«
    Mir gefällt, dass sie mit uns nicht wie mit kleinen Kindern redet. »Dann wissen Sie also nicht, was das ist?«, frage ich und übergebe ihr das Päckchen.

    Wieder schüttelt sie den Kopf und sagt: »Warum schauen wir nicht nach?« Sie führt uns durchs Wohnzimmer in die kleine Küche. Nachdem sie die Schachtel auf dem Küchentisch abgestellt hat, holt sie ein Messer aus der Schublade. Sorgfältig schlitzt sie das Klebeband auf und hebt dann die Seitenwände der Schachtel an. Das Ganze erinnert mich stark daran, wie wir das Paket mit der Kassette meines Vaters geöffnet haben. Nur dass ich diesmal den Inhalt kenne. Für Mrs Billingsly gilt das allerdings nicht.
    Sie greift in die Schachtel und nimmt das Büchlein heraus. Sie wendet es in ihren Händen hin und her und schlägt zögernd den Einbanddeckel auf. Sie liest etwas, das da geschrieben steht, klappt das Buch wieder zu und drückt es dann fest an ihre Brust. Als sie hochschaut, sind ihre Augen voller Tränen. Aber sie leuchten auch.
    »Woher habt ihr das?«, flüstert sie.
    »Das haben wir Ihnen schon erklärt«, sagt Lizzy. »Mr Oswald wollte, dass wir es abgeben. Wir arbeiten sozusagen für ihn.«
    Sie starrt uns mit leeren Augen an, dann konzentriert sie sich schlagartig und tritt einen Schritt zurück. »Der alte Ozzy? Nein, das kann nicht sein. Ich bitte euch, er wäre inzwischen hundertzwanzig Jahre alt!«
    Ich bin vielleicht nicht besonders gut darin, das Alter von Erwachsenen zu erraten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Mr Oswald höchstens siebzig oder fünfundsiebzig ist. Eindeutig jünger als Mrs Billingsly.
    Ich schüttle den Kopf. »Ich denke, er ist erst knapp über siebzig. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn irgendjemand Ozzy nennt.«
    Lizzy nickt zustimmend.

    Mrs Billingsly schaut auf das Buch hinunter und sagt mit zittriger Stimme: »Wie viel schulde ich euch dafür?«
    Lizzy und ich sehen uns erschrocken an. Mr Oswald hat nie ein Wort über irgendeine Bezahlung gesagt.
    »Öh, nichts?«, antworte ich unsicher.
    Aber Mrs Billingsly scheint uns nicht länger wahrzunehmen. Sie streicht immer wieder mit der Hand über den Buchdeckel. Unvermittelt verlässt sie die Küche und setzt sich im Wohnzimmer auf das Sofa. Lizzy beugt sich dicht zu mir und flüstert: »Sollen wir jetzt gehen?«
    »Ich weiß nicht«, flüstere ich zurück. »Ich bin mir nicht im Klaren, was hier los ist.«
    »Ich auch nicht. Aber klar ist, das ihr das Buch zu gefallen scheint.«
    Ich nicke. »Nur, wieso erinnert sie sich nicht dran, dass sie es bestellt hat?«
    »Sie ist steinalt?«, schlägt Lizzy vor.
    »Ich glaube, daran liegt es nicht.«
    »Dann lass es uns rausfinden«, sagt Lizzy. Wir gehen leise ins Wohnzimmer und setzen uns beide auf einen Stuhl gegenüber der alten Dame.
    »Äh, Mrs Billingsly?«, sagt Lizzy. »Ist alles in Ordnung?«
    Mrs Billingsly schaut von dem Buch hoch, das aufgeschlagen auf ihrem Schoß liegt. Ich sehe den Briefumschlag, den ich in Mr Oswalds Büro vom Fußboden aufgelesen habe, auf dem Kissen neben ihr. Lächelnd fragt sie: »Wollt ihr meine Lieblingsstelle hören?«
    Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass jemand eine Lieblingsstelle in einem Buch über Waldtiere hat. Ohne unsere Antwort abzuwarten, beginnt sie zu lesen:
    Später, als sie alle »Lebe wohl« und »Danke« zu Christopher Robin gesagt hatten, gingen Pu und Ferkel nachdenklich durch den goldenen Abend nach Hause, und lange war es ganz still.
    Lizzy springt von ihrem Stuhl auf. »Waldtiere!«, schnauft sie. »Das ist Pu der Bär!«
    »Psst!«, sage ich zu ihr und ziehe sie auf ihren Sitz zurück. »Lass sie zu Ende lesen.«
    Mrs Billingsly fährt fort:
    »Wenn du morgens aufwachst, Pu«, sagte Ferkel schließlich, »was sagst du dann als Erstes zu dir?« »Was gibt’s zum Frühstück?«, sagte Pu. »Was sagst du, Ferkel?« »Ich sage: ›Ich frage mich, was heute Aufregendes passieren wird‹«, sagte Ferkel. Pu nickte gedankenschwer. »Das ist dasselbe«, sagte er.
    Mrs Billingsly hört auf zu lesen, aber sie hebt den Kopf nicht. Warum hat Mr Oswald uns nicht gesagt, dass das Buch Pu der Bär ist? Diese ganze Angelegenheit ergibt keinen Sinn. Plötzlich dämmert mir etwas, das

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