Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
ist wirklich traurig«, sagt Lizzy.
Der Kommentar reißt Mrs Billingsly aus ihren Tagträumereien und sie stemmt sich vom Sofa hoch. »Nun denn, ich bin überzeugt, ihr zwei habt Besseres zu tun, als einen Sommernachmittag bei einer alten Frau zu verbringen.« Ohne uns direkt wegzuscheuchen, befördert sie uns doch zur Wohnungstür. »Und ihr sagt Ozzy bitte, dass ich ihm von ganzem Herzen danke.«
»Aber Mr Oswald ist nicht …«, setzt Lizzy an.
Ich falle ihr ins Wort und sage: »Machen wir.«
Sie schließt die Tür hinter uns und wir stehen wieder in dem eleganten Flur. Für kurze Zeit sind wir beide stumm. James taucht hinter uns auf und fragt: »Wie war es?«
Mir fällt keine angemessene Formulierung als Antwort ein. Lizzy sagt bloß: »Mr Oswald darf morgen eine Menge erklären!«, und rauscht davon in Richtung Aufzug.
»James«, sage ich, während wir hinterhergehen, »nennt irgendjemand Mr Oswald Ozzy?«
Er schüttelt lächelnd den Kopf. »Sieht er in Ihren Augen wie ein Ozzy aus?«
»Nein.«
Als die Aufzugtüren zugleiten, sagt er: »Der alte Ozzy – so nannten sie seinen Großvater.«
Kapitel 10: Oswald Oswald
Auf dem Heimweg reden Lizzy und ich nicht viel. Sie ist noch immer stinksauer wegen der Details, die Mr Oswald uns zu erzählen »vergessen« hat, und so verbringe ich die Zeit damit, mir zu überlegen, was ich Mom sagen werde. Ich weiß, dass ich ihr nicht alles sagen kann. Zumindest nicht, bis ich kapiert habe, was wirklich passiert ist und was ich selbst davon halte. Als ich unsere Wohnungstür aufmache, steigt mir der Geruch von Curry in die Nase. Das bedeutet, Tante Judi ist herübergekommen und kocht eines ihrer exotischen Gerichte. Mom und Tante Judi fallen sofort über mich her, als sie mich hören.
»Und?«, fragen sie wie aus einem Mund und wischen sich die Hände an Zwillingsschürzen ab. »Wie ist es gelaufen?«
»Ich habe gehört, ihr seid in einer Luxuslimousine weggeprescht!«, sagt Tante Judi.
Meine einstudierte Ansprache ergießt sich in einem Wortschwall. »Die Limousine war fantastisch. Da drin gab es Sodawasser und einen Fernseher! Mr Oswald war wirklich nett. James, der Fahrer, hat uns zu unserer ersten Arbeit gebracht. Wir sollten einer Frau an der Upper East Side ein Buch bringen. Die war auch nett. Das war so ziemlich alles. Darf ich in mein Zimmer gehen?« Als ich meine Ansprache beendet habe,
bin ich leicht außer Atem. Tante Judi strahlt noch immer übers ganze Gesicht, das Strahlen meiner Mutter hat an den Rändern etwas zu bröckeln begonnen.
»Noch zehn Minuten bis zum Abendessen«, sagt sie und wirft mir einen langen Blick zu. Aber sie lässt mich gehen.
Ich leere meinen Rucksack auf dem Bett aus und durchwühle den Inhalt auf der Suche nach dem Umschlag. Er ist nicht da. Ich fühle Panik in mir aufsteigen, bis mir einfällt, dass ich ihn ja in meine Hosentasche gesteckt habe. Der Brief ist vergilbt und zerfleddert, aber als ich ihn auseinanderfalte, sind die Druckbuchstaben noch lesbar. Das hat kein Computer geschrieben, so viel ist sicher. Ich sehe Kleckse von Druckerschwärze und die Buchstaben tanzen ab und zu aus der Reihe. Der Brief ist garantiert mit einer dieser alten Schreibmaschinen getippt worden, bei denen man eine Taste anschlägt und dann schnellt ein Metallhebel mit einem Buchstaben am Ende nach oben und landet auf dem Papier. Grandma hat noch so eine Maschine, aber jedes Mal wenn ich damit zu schreiben versuche, verklemmen sich die Tasten.
Ich lehne mich an die Wand, die ich mit Lizzys Zimmer teile, und fange an zu lesen.
Oswalds Pfandleihhaus
Datum: 31. März 1935
Name: Mabel Parsons
Alter: 15 3/4
Wohnsitz: Brooklyn
Leihobjekt: Pu der Bär. Vom Autor signiert.
Persönliche Angaben des Verkäufers: Ich muss dieses Buch verkaufen, weil ich Geld für ein Kleid für den Kotillon brauche, weil meine Eltern kein Geld haben, um mir ein neues zu kaufen, sonst müsste ich nämlich das alte von meiner Schwester Janie tragen, aber das ist mir viel zu groß, und ich würde darin ertrinken und niemand würde mich zum Tanzen auffordern, und wenn mich niemand zum Tanzen auffordert, bekomme ich vielleicht nie einen Mann, und dieser Abend ist vielleicht meine einzige Chance. Ich will nie im Leben so eine alte Jungfer werden wie meine Großtante Sylvia, die immer sagt, dass sie nicht geheiratet hat, weil sie nie die richtigen Kleider hatte. Bitte sagen Sie es nicht meinen Eltern.
Ein Schwarz-Weiß-Foto ist unter die persönlichen Angaben
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