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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Mass
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schon von dem Moment an hätte klar sein sollen, als sie das Buch aus der Verpackung nahm.
    »Mrs Billingsly«, sage ich, »hat Ihnen dieses Buch früher mal gehört?«
    Zuerst gibt sie keine Antwort, streicht lediglich mit der Hand über die Seite. Dann sagt sie: »Es gehörte mir nur zur Hälfte. Zur anderen Hälfte gehörte es meiner besten Freundin Bitsy.«

    »Sie meinen Betsy?«, schlägt Lizzy vor.
    Mrs Billingsly schüttelt den Kopf. »Bitsy. Bitsy Solomon.«
    »Komische Namen haben die Leute früher gehabt«, kommentiert Lizzy.
    Ich werfe ihr einen entrüsteten Blick zu. »Erzählen Sie weiter«, dränge ich Mrs Billingsly.
    Sie seufzt leise und sagt: »Ich habe seit über fünfundsechzig Jahren nicht mehr mit Bitsy gesprochen.«
    »Aber Sie haben doch gesagt, sie ist Ihre beste Freundin«, sagt Lizzy.
    »Dann habe ich mich falsch ausgedrückt«, antwortet Mrs Billingsly ruhig.
    Ich bemerke, dass ihre linke Hand ein bisschen zittert. Sie sieht, dass ich hinschaue, und legt rasch die andere Hand obenauf. Ich schaue ebenso rasch weg, und es tut mir leid, dass ich es überhaupt gesehen habe. Fünfundsechzig Jahre, das ist eine halbe Ewigkeit. Die längste Zeit, in der Lizzy und ich jemals nicht miteinander geredet haben, war eine Woche, und das war, weil sie behauptet hatte, solche Dinge wie in Star Trek könnten nicht wirklich passieren.
    »Bitsy war damals meine beste Freundin«, erklärt Mrs Billingsly. »Bis ich dieses Buch für ein Ballkleid verkauft habe. Sie sagte es mir auf den Kopf zu, aber ich behauptete, ich hätte das Buch nicht genommen. Ich wusste, dass sie wusste, dass ich es getan hatte. Beste Freundinnen merken immer, wenn die andere lügt. Über Jahre hinweg wollte ich mich dafür entschuldigen, aber es war mir einfach zu peinlich.«
    »Ich kapier das nicht«, sagt Lizzy. »Wie kann es sein, dass Sie für dieses Buch ein komplettes Kleid bekommen haben?«
    Mrs Billingsly schlägt den Buchdeckel auf und dreht das
Buch zu uns herum. Wir rücken näher heran, um die verblasste Handschrift entziffern zu können.
    Für Bitsy und Mabel, Pus größte
    Fans in Amerika
    Mit den besten Grüßen, A. A. Milne
    »Oh«, sagt Lizzy.
    »Wow«, sage ich.
    »Der alte Ozzy hat mir zwanzig Dollar dafür gegeben. Damals in den Dreißigern was das geradezu ein Vermögen für ein Kind.«
    Ich glaube immer noch, dass sie mit Mr Oswald etwas durcheinanderbringt, denn unser Mr Oswald kann ihr dieses Buch unmöglich abgekauft haben. Trotzdem bringe ich’s nicht fertig, ihr zu sagen, dass sie sich täuscht. Lizzy hat wie üblich kein Problem damit, sich ein paar Worte einfallen zu lassen.
    »Warum haben Sie das Kleid denn so unbedingt gebraucht?«, fragt sie.
    Mrs Billingsly schließt die Augen. Eine ganze Weile antwortet sie nicht. Ich fange an, auf meinem Stuhl herumzurutschen. Ist sie womöglich eingeschlafen? Lizzy kneift mich in den Arm und flüstert lautlos: »Was machen wir jetzt?« Ich will ihr zu verstehen geben, dass wir vielleicht verschwinden sollten, als Mrs Billingsly die Augen aufschlägt und die Hand nach dem alten Briefumschlag ausstreckt. »Hier steht alles drin«, sagt sie, schiebt den Brief in den Umschlag zurück und hält ihn mir hin. »Tut ihr mir den Gefallen und lest ihn später? Ich wäre jetzt gern alleine.«
    Ich stecke den Umschlag in die Gesäßtasche meiner Shorts
und wünsche mir zum ersten Mal in meinem Leben, ich wäre eine Spur weniger lässig angezogen.
    »Kommt Ihr Mann bald nach Hause?«, fragt Lizzy. Ich höre etwas Ungewohntes aus ihrer Stimme heraus – echte Anteilnahme.
    Mrs Billingsly schüttelt den Kopf und schaut zu einem vergilbten Hochzeitsfoto auf dem Kaffeetisch hinüber. »Nein, Richard ist nicht mehr unter uns.«
    »Wie sind Sie sich denn begegnet?«, fragt Lizzy.
    Mein erster Gedanke ist: Würde Lizzy doch bloß aufhören, ihr Antworten auf solche Fragen abzuverlangen. Aber rasch wird mir klar, was sie da tut. Sie bringt Mrs Billingsly zum Reden in der Hoffnung, dass ihr unser Abschied dann nicht so plötzlich erscheint.
    »Ich habe ihn an dem Abend kennengelernt, als ich das Kleid trug«, sagt sie wehmütig. »Damals war ich sechzehn.« Sie greift sich mit der Hand an den Hals und streichelt die kleinen Herzen, die an ihrer Halskette hängen. Es ist eine ganz unwillkürliche Bewegung. Bestimmt wäre sie überrascht, wenn man sie darauf aufmerksam machen würde. Sie fährt fort: »Bitsy hat ihn nicht einmal kennengelernt. Sie wäre meine Trauzeugin gewesen.«
    »Das

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