Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
abseits der Öffentlichkeit praktizieren? Noch bevor der Monat zu Ende ging, war die Frage beantwortet.
Zwischen dem 25. und 28. Januar sprengte das »Überfallkommando Amsterdam« der landesweiten bewaffneten Widerstandsgruppen mehrere Transformatorenhäuschen in Amsterdam. Aller Wahrscheinlichkeit nach aus Rache für diese Sabotage-Akte mussten am 30. Januar fünf Männer am Rozenoord durch ein deutsches Exekutionskommando sterben. Das jüngste Opfer, ein Schüler, war 18 Jahre alt, das älteste, ein Zahntechniker, war 27. Schon einen Tag später, am 31. Januar, hallten am Rozenoord wieder Schüsse über die Amstel. Sechs Männer wurden von den Deutschen erschossen, die im Dezember 1944 auf eigene Faust Widerstands-Überfälle in deutschen Uniformen verübt hatten, darunter ein desertierter deutscher Soldat, Ernst Ludwig Wagner, 24 Jahre alt. Die anderen fünf Ermordeten waren Arbeiter und Zimmerleute, der Jüngste 19 Jahre alt. Die Besatzer hatten sich mit dem Rozenoord am südlichen Amsteldijk einen Platz ausgesucht, wo ihre Verbrechen im Verborgenen blieben. Hier starben ihre Opfer mit dem quälenden Gedanken, ob ihre Familie, ihre Freunde jemals von ihrem Sterben erfahren würden.
Während die einen einen einsamen Tod draußen vor der Stadt sterben, machen sich seit dem Jahresanfang zehntausende von Amsterdamern jeden Morgen in aller Frühe, oft schon gegen vier Uhr, bei eisiger Kälte und Dunkelheit auf den Weg. Der Exodus besteht vor allem aus Frauen, Kindern und älteren Männern. Die jüngeren Männer, wenn sie noch nicht untergetaucht waren, blieben im Haus, um nicht für den Arbeitsdienst aufgegriffen zu werden. Mit Handkarren, Kinderwagen und Holzkisten aller Art, Koffern und Säcken, zu Fuß und mit Fahrrädern zieht die Menschenkarawane aus der Stadt hinaus und über das flache verschneite und gefrorene Land gen Norden, als wäre im 20. Jahrhundert der Dreißigjährige Krieg zurückgekehrt. Mindestens 40 000 Amsterdamer sind es ab Januar 1945 täglich. Ihr einziges Ziel: die wenigen Tauschwaren, die sie noch haben und mit sich führen – Schmuck, Besteck, Porzellan, Bettwäsche, Bilder, Kristalllampen, Teppiche – bei den Bauern einzutauschen gegen Essbares, gegen Kartoffeln, Gemüse, Äpfel, vielleicht sogar etwas Butter und Speck.
Mindestens zwei Tage dauerte eine solche »Hungerfahrt«, und je weiter man es nach Norden schaffte, vielleicht bis ins Wieringermeer, um so größer die Chance, etwas mit nach Hause zu bringen. Die Menschen schliefen nachts für wenige Stunden dicht gedrängt auf Bahnhöfen in Wartesälen, in Cafés oder Kuhställen; die abgewetzten Kleider durchnässt von Schneeschauern, die Schuhe durchlöchert und notdürftig noch zusammengehalten. Unterwegs gingen Kinder verloren, standen weinend am Straßenrand. Manchen erinnerte der Treck über die Deiche und längs den zugefrorenen Kanälen an das Gedränge in der Kalverstraat in vergangenen friedlichen Zeiten.
Die Bauern reagierten unterschiedlich auf die Menschenflut, die in ihre Dörfer drängte. Die einen teilten großzügig ihre Vorräte, spendeten den ausgehungerten Städtern eine kräftige Mahlzeit. Andere forderten viel und gaben wenig. Wer mit mehr oder weniger vollen Beuteln zurückkehrte, musste damit rechnen, an den Einfahrtstraßen und Brücken Amsterdams gnadenlos von Männern der Landwehr und deutschen Soldaten und Polizisten geplündert zu werden.
Am 9. Januar 1945 erreichte die Exilregierung in London aus Amsterdam ein Notschrei der Widerstandskräfte: Brot und Kartoffeln würden gerade noch für 14 Tage reichen. Die tägliche Nahrungszufuhr auf Gutscheine war von 2700 im August 1942 auf 630 Kalorien gesackt. Immer noch war das IJ sselmeer zugefroren, konnten keine Schiffe Nahrungsmittel aus dem Osten heranbringen. Die Widerstandsgruppen machten »einen dringenden Aufruf an die Alliierten, die Invasion zu beschleunigen«. Ein Telegramm vom 18. Januar nach London fügte hinzu, dass die deutschen Besatzer immer schamloser den hungernden Niederländern ihre wenigen Lebensmittel raubten.
Dialoge von denen, die sich damals in Amsterdams Straßen trafen, ausgemergelt und abgemagert, sind überliefert: »Wo sind bloß die Hunde und Katzen geblieben … Aufgegessen wie die Vögel …« Dann tauschte man vielleicht noch die Rezepte der Kommission für Familienberatung und Haushaltsführung aus, mit deren Hilfe Tulpenzwiebeln und Zuckerrüben im Kochtopf genießbar gemacht werden sollten – als saure und
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