Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
als süße Variante. Nachdem Mitte Januar die allerletzten Kartoffelvorräte aufgebraucht waren, stellte die Ernährungskommission Bezugsscheine für Zuckerrüben aus. Sie waren als Kartoffelersatz so wichtig geworden, dass mit ihnen nicht mehr nach Belieben gehandelt werden durfte. Im Rückblick nahmen die gekochten Tulpenzwiebeln – im Gegensatz zu den ungeliebten Zuckerrüben – fast mythische Qualitäten an. Aber die Zuckerrüben mit ihrem hohen Nährwert hatten wesentlich mehr Anteil am Überleben in diesen Mangel-Zeiten.
Am 26. Januar traf ein Zug mit Kartoffeln auf dem Amsterdamer Hauptbahnhof ein. Die Zentralküchen, kurz vor dem Schließen, konnten weiter kochen. Das Zugpersonal bestand aus Deutschen, die anboten, dass niederländische Eisenbahner den Zug übernahmen, um weitere Kartoffeln zu liefern. Doch die Streikleitung sagte »Nein«. Inzwischen stellten sich die ersten Amsterdamer schon früh um 4 Uhr bei den Bäckereien an, um wenigstens eine kleine Chance auf ein halbes Brot zu haben. Die beliebten Lieferungen ins Haus waren schon lange eingestellt. Als eine der letzten teilte die Bäckerei Siemons ihren Kunden am 5. Februar mit, man sei zum größten Bedauern »wegen wiederholter Plünderungen der Bäckereiwagen genötigt, die Brotlieferungen ins Haus zeitweise zu stoppen«.
Als der Februar kam, sanken die täglich auf Bezugsscheine erreichbaren Kalorien in Amsterdam pro Person auf 340. Die Kurve der Erkrankungen an Diphtherie und Paratyphus stieg, ebenso die Sterbeziffern. Das Amsterdamer Büro für Statistik zählte vom 27. Januar bis 3. Februar 1945 genau 601 Tote, in früheren Jahren waren es in einer Winterwoche kaum 100 gewesen. Die Kombination von Hunger und Kälte machte den Menschen, vor allem den alten, schwer zu schaffen. Während die einen auf mühsamer Nahrungssuche durch die Dörfer zogen, versuchten die anderen mit allen Mitteln, in der Stadt an Brennstoffe und das bedeutete: an Holz zu kommen.
Mitten auf Amsterdams Straßen sah man am helllichten Tag viele Rücken, die sich über Eisenbahnschienen beugten. Manch einer ging nur noch mit einer eisernen Stange aus dem Haus, um die Holzblöcke herauszubrechen, die die Schienen unter dem Asphalt umgaben, was die Schwingungen der fahrenden Bahnen abfedern sollte. Jetzt waren sie als Brennholz hoch willkommen, zumal sie mit Teer getränkt waren. Die Stadt verbot offiziell den Holzblock-Raub. Doch das Verbot blieb wirkungslos, da städtische Helfer eifrig an diesem Raub beteiligt waren, um die Zentralküchen mit Brennstoff zu versorgen. Insgesamt wurden seit der Jahreswende 1944/45 bis ins Frühjahr rund vier Millionen Holzblöcke aus dem Gleisbett der Amsterdamer Straßenbahn herausgebrochen.
Holzraub: je länger der Frost anhält, um so mehr Holz wird aus leeren »Juden-Häusern« entfernt
Auch aus den vielen leer stehenden Wohnungen, deren jüdische Bewohner zur Deportation gezwungen worden waren, wurde mit jedem Wintermonat mehr herausgeholt, was brennbar war: Fensterrahmen, Treppen, Flur- und Dachbalken. Die Eindringlinge nutzten es selbst oder verkauften es am Waterlooplein. Für Kinder und Jugendliche waren Amsterdams leere Wohnungen zum Abenteuer geworden, die Schulen hatten ohnehin wegen Mangel an Brennstoff die Ferien bis zum 12. Februar verlängert. Danach wurden Klassen zusammengelegt, und nur an zwei Tagen in der Woche ab 14 Uhr unterrichtet. Hauptsächlich von Lehrerinnen, denn viele Lehrer waren untergetaucht, um dem Arbeitsdienst zu entgehen.
Mit dem neuen Jahr nahmen die Unfälle beim Holzraub in den leeren Wohnungen dramatisch zu, nicht selten waren Kinder unter den Toten und Verletzten. Ganze Straßenzüge, vor allem in der Innenstadt im alten historischen Judenviertel, sahen aus wie nach einem Luftangriff. Wie abgebrochene Zähne ragten die Häuser in die Luft. Im Laufe des Frühjahrs stürzten fast alle Häuser im Viertel zwischen Nieuwmarkt und Muiderstraat ein, weil alle hölzernen Gebäudeteile, der Dachstuhl inbegriffen, entwendet waren. Auch in der Transvaalbuurt, dem beliebten jüdischen Viertel der zwanziger Jahre, blieben die modernen Klinkerhäuser nicht von Raubzügen verschont.
Not kennt kein Gebot. Nicht aus Übermut oder Gier riskierten die Eindringlinge Kopf und Kragen. Der Winter 1944/45 war extrem kalt und schneereich. Es ging darum, den Körpern, durch permanente Unterernährung geschwächt, wenigstens ein wenig Wärme zuzuführen. Am Ende des Frühjahrs waren in Amsterdam rund 5000
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