Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
5700 Mitglieder, im Dezember 1933 hatten sich 20 000 Niederländer bei den Nationalsozialisten eingeschrieben. Die Welle des Erfolgs, die ihre faschistischen Gesinnungsgenossen im deutschen Reich an die Macht trug, hat zweifellos zu diesem sensationellen Aufschwung beigetragen.
Die NSB war kein Sammelbecken von verkrachten Existenzen und Verlierern, keine bloße Protestpartei. Hier fanden sich Freiberufler, Mittelständler, Selbständige, Militärs, allesamt Vertreter einer bürgerlichen Kultur. Den Amsterdamer NSB -Distrikt übernahm im Herbst 1933 ein Mitglied, das Zahnarzt von Beruf war. Nicht wenige trieben idealistische Motive: die Sehnsucht nach einem dritten Weg zwischen Marxismus und Liberalismus, die Hoffnung auf eine bessere, gerechte Gesellschaft. Für jüngere Menschen war es attraktiv, zu einer neuen heroischen Elite zu zählen.
Die NSB -Leute trugen Uniform, schwarz statt braun wie bei den deutschen Nazis; parallel zum Hitler-Gruß grüßte man sich zackig mit »Hou Zee« und ausgestrecktem Arm. Die WA – Wehr-Abteilung – aus kampfbereiten NSB lern wurde nach dem Beispiel der deutschen SA aufgebaut. Allerdings legte Anton Mussert in den ersten Jahren Wert darauf, dass sich die niederländischen Nationalsozialisten von den deutschen unterschieden. »Jeder gute holländische Jude ist bei uns willkommen«, schrieb er im Sommer 1933. Mussert wusste, dass antisemitische Töne bei seinen Landsleuten nicht gut ankamen. Bei jeder Gelegenheit beschwor die NSB ihre Treue zur Königin und dem Haus Oranien. Die Betonung, einen eigenen Faschismus niederländischer Prägung zu vertreten, tat ihre Wirkung. Bei der ersten großen öffentlichen Kundgebung der NSB in Amsterdam, im April 1934, zu der rund 7000 Mitglieder aus dem ganzen Land anreisten, verkündete Anton Mussert, dass die Partei fast 30 000 Mitglieder zählte.
In der Mitte der Gesellschaft aber waren die niederländischen Nationalsozialisten deshalb nicht angekommen. Die übergroße Mehrheit der Niederländer fühlte sich eins mit den Hunderttausend, die im September 1933 bei der Abschlussfeier zum fünfunddreißigjährigen Thronjubiläum von zwei Uhr mittags bis neun Uhr abends im Amsterdamer Olympiastadion an Königin Wilhelmina vorbeigezogen waren. Ihnen allen sprach die Königin aus dem Herzen, als sie in ihrer Rede ausrief: »Wij willen onz zelf zijn en blijven!« Ein Satz, der in die Geschichtsbücher des kleinen Landes eingegangen ist: Wir wollen wir selber sein und bleiben. Das bedeutete: Auch in Krisenzeiten dürfen Kopien von ideologischen Bewegungen jenseits der Grenzen die Grundlagen der niederländischen Gesellschaft nicht ins Abseits stellen oder zerstören; Vielfalt und Pluralismus der Überzeugungen, geistige Freiheit und Offenheit gehören unumstößlich dazu. Und die Amsterdamer bejubelten jeden Abend Künstler und Künstlerinnen, egal welcher Nationalität und Hautfarbe, die Unterhaltung und Vergnügen in den grauen Alltag brachten.
Am 28. April 1934 war großer Bahnhof an Amsterdams Centraal Station: Reporter, ein Empfangskomitee und viele Fans begrüßten Rudolf Nelson und seine Frau, die sich im Schiller-Hotel am Rembrandtplein einquartierten, dazu die ganze Nelson-Truppe. Louis Davids hatte den berühmten deutschen Kollegen in sein Theater am Leidseplein eingeladen. Schon am 1. Mai war dort Premiere mit »1000 Takte Nelson«. Dreißig Jahre zuvor hatte Rudolf Nelson, 1878 in Berlin geboren, in der deutschen Hauptstadt sein erstes Kabarett eröffnet. Seitdem waren seine Großstadt-Revuen, die Berliner Schnodderigkeit und Wiener Charme mit Eleganz auf der Bühne vermischten, ein unerreichtes Markenzeichen. Das Berlin der zwanziger Jahre ist ohne Nelsons Theater am Kurfürstendamm, seine Lieder, Schlager und Chansons undenkbar; Kurt Tucholsky war einer seiner Textschreiber. Um 1930 trällerte man auch in Amsterdam seinen Hit vom »Nachtgespenst« – »… Ich weck Dich, wenn Du pennst, so lang bis Du mich Liebling nennst«. Rudolf Nelson war schon zuvor in Amsterdam aufgetreten und sprach Niederländisch, ein alter willkommener Bekannter.
Die Anreise der Nelson-Truppe nach Amsterdam im Frühjahr 1934 war über Prag, Wien, Zürich gelaufen. Denn im Frühjahr 1933 hatte der Jude Rudolf Nelson Deutschland verlassen und war von seiner Tournee ins Ausland nicht mehr in das Land zurückgekehrt, wo die Nationalsozialisten Kultur und Unterhaltung fest in ihren Dienst nahmen. Ein Glück für Amsterdam: Ab September 1934 ist
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