Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
buntes, bewegtes Ensemble bildet, an die ohnmächtige Wut der Menschen.
Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich weiter. 1934 stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen in Amsterdam auf 50 000; 1935 waren laut Statistik 54 000 Menschen ohne Arbeit, in der Realität noch viel mehr. Im Winter 1934/35 befragte die Stadt Arbeitslose und Familienangehörige nach ihrem Alltag. Die Mehrheit war gleich zu Beginn der Krise entlassen worden, hatte keinerlei Hoffnung, je wieder Arbeit zu bekommen. Die Betroffenen waren erbittert und mutlos, und es fehlte ihnen die Energie zum Protest.
In der nationalen Politik blieb Ministerpräsident Hendrik Colijn von der calvinistisch-protestantischen ARP (Antirevolutionäre Partei), die im Bündnis mit anderen konfessionellen Parteien und den Liberalen regierte, unangefochten. Das bürgerliche Lager vertraute dem »Steuermann«, der auf Wahlzetteln als der »von Gott gesandte Führer der ARP « gepriesen wurde. In der Sozial- und Wirtschaftspolitik lehnte der selbstbewusste Colijn, Jahrgang 1869, ein aktives staatliches Eingreifen unbeirrt ab. Löhne kürzen, Preise senken, Leute entlassen, blieb seine Devise, der Markt wird sich von alleine wieder aufrichten. Die Folge des rigorosen Sparkurses: 1934 war das reale Einkommen in den Niederlanden pro Kopf im Vergleich zu 1929 um 30 Prozent gesunken.
Kein öffentliches Aufbegehren, keine Streiks im Land. Immerhin: Bei der Kommunalwahl im Frühjahr 1935 verloren in Amsterdam die bürgerlich-konfessionellen Parteien Stimmen, die Sozialdemokraten gewannen zu ihren 16 Sitzen im Gemeinderat einen hinzu. Aber Monne de Miranda, der neue-alte Beigeordnete, hatte kein Geld mehr für den sozialen Wohnungsbau. Es war nicht nur vorbei mit den beispielhaften städtebaulichen Wohnprojekten in Amsterdam. Seit das schöne neue Viertel Amsterdam Zuid im Oktober 1929 fertig war, blieben viele Wohnungen, für Beamte und Besserverdienende gedacht, leer – bis 1933. Dann plötzlich fanden sich zahlungskräftige Mieter für die modernen Wohnungen: Amsterdam Zuid profitierte von den jüdischen Flüchtlingen aus NS -Deutschland.
Der Wirtschaftskrise zum Trotz: Tanz auf dem Dam 1935
Otto Frank mit seiner Familie am Merwedeplein ist ein typisches Beispiel: In der Mehrzahl waren es Kaufleute, verheiratet, um die vierzig, mit finanziellem Polster und bereit, sich mit aller Kraft in den Niederlanden zu engagieren. Amsterdam Zuid – ob in der Rivierenbuurt (Flüsseviertel) oder dem Viertel um Apollolaan und Beethovenstraat – erinnerte sie an das heimatlich-elegante Ambiente in Düsseldorf, Berlin oder Frankfurt.
Die Beethovenstraat mit ihren breiten Bürgersteigen und der Tram-Linie 24 in der Straßenmitte, die bis zum Hauptbahnhof fuhr, avancierte bald zur deutschen Kauf- und Flaniermeile von Amsterdam Zuid. Zuerst eröffnete 1934 Leo Pollack »Delicia«, eine Bäckerei nebst Lunchraum, wo es deutsche Leckereien wie Nuss- oder Käsetorte und deutsches Brot gab. 1935 folgte Metzger Siegfried Hergershausen aus Duisburg, die Kundinnen standen Schlange – deutsche Wurst! Neben einem koscheren Restaurant, einem Obst- und Gemüseladen, dem Optiker Bamberger, der feinen Herrenmode und dem Fotoatelier der Münchnerin Grete Weil bildete das Café de Paris mit seiner Terrasse den allseits beliebten »Sahnetupfer« der Beethovenstraat. Immerhin hing bei Delicia ein Schild mit dem Hinweis, hier werde auch Holländisch gesprochen.
Die deutschen Juden lebten in Amsterdam Zuid in ihrer eigenen Welt. Da die meisten keine niederländischen Zeitungen lasen, haben sie nicht viel vom Marsch der 16 000 NSB -Mitglieder erfahren, die Ende März 1935 vom Bahnhof in ein Ausstellungsgebäude im Viertel De Pijp marschierten. Sie mussten die Innenstadt meiden, Fahnen und Musik waren verboten. Im Innern der Halle jedoch war eine Ehrentribüne für Anton Mussert, den »Leider« (Führer) der Nationalsozialistischen Bewegung aufgebaut. In seiner Rede warnte er, das niederländische Volk stünde vor dem Untergang. Nur die NSB könne noch Rettung bringen.
Wenige Tage später riefen die Sozialdemokraten zu einer Gegendemonstration für Frieden, Wohlfahrt und Freiheit auf. Rund 35 000 Amsterdamer kamen. Die Regierung von Ministerpräsident Hendrik Colijn hatte Militärs und Beamten schon 1934 verboten, Mitglied in der NSB zu sein und die Wehrabteilung ( WA ) der NSB durfte öffentlich nicht in schwarzer Uniform auftreten. Jetzt nannte Colijn die NSB einen
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