Leben mit Hochsensibilitaet
berichten. Sylvia: „Meine Sinnesorgane waren schon immer äußerst sensibel gegenüber fast allem. Ich spüre wirklich alles. Nahrung, Gerüche, Musik, Bilder, Worte … was man sich nur denken kann, fühle ich. Licht bereitet mir Schmerzen. Auf Kinderbildern stehe ich immer mit zusammengekniffenen Augen. Gegenwärtig trage ich meistens eine Sonnenbrille. Durch Wärme werde ich leicht reizbar. Ich muss dann nach draußen, an die frische Luft. Wenn ich in einem Geschäft etwas kaufen muss, komme ich schnurstracks zur Sache. Ein langer Aufenthalt in Warenhäusern ist der reine Horror für mich.“
Obwohl ihre Wohnung in einer ruhigen Umgebung ist, wird sie doch oft durch Geräusche aus Nachbarwohnungen gestört. „Wenn mein Nachbar seine Haustür zuschlägt, fühle ich das wie einen Schlag auf meine Brust. Der Ärger darüber und die Neigung, ihn deswegen anzusprechen, sind groß. Wenn ich mit meinem Freund fernsehe, bin ich diejenige, die den Fernseher immer wieder leiser stellt. Aber auch Emotionen fühle ich intensiv. Als Kind spürte ich genauestens die Emotionen meiner Mutter. Jede unausgesprochene Spannung in der Familie bemerkte ich, ohne richtig zu wissen, was es war, das ich fühlte. Ich wurde zu einer Art Blitzableiter der Familie. In der Pubertät wurde das Bedürfnis, nicht so sensibel zu sein, immer größer.All die Dinge um mich herum wollte ich nicht mehr wahrnehmen müssen. Warum musste ich so leiden, indem ich so viele kleine Dinge um mich herum bemerkte? Das wurde mein Lebensthema: weniger fühlen.“
2.4 Häufung
Manche Hochsensiblen sind vor allem gegenüber einer bestimmten Art von Reizen sensibel, während andere, wie Sylvia, gegenüber nahezu allen Reizen sensibel sind. Vor allem bei denjenigen, die alles fühlen, besteht die Gefahr der Reizansammlung: Durch die Häufung verschiedener Reize kommt es zur Reizüberflutung und damit zu Spannung und Stress.
Jeder, ob hochsensibel oder nicht, zeigt die besten Leistungen, wenn er sich in einer angenehmen Grundspannung befindet und weder zu sehr erregt ist noch zu sehr gelangweilt. Dieses basale Spannungsoptimum ist individuell unterschiedlich. Der eine benötigt einfach grundsätzlich mehr Erregung als der andere. Ohne Basisspannung würde das Leben für uns unmöglich werden; sie ist die Kraft, die uns am Laufen hält. Bei zu viel Grundspannung wird das Leben allerdings unerträglich. Man fühlt sich überwältigt, was auch der Gesundheit schadet. Deshalb sucht man dann nach Möglichkeiten, sich zu entspannen und der Stressursache zu entkommen – gleichgültig, ob diese nun im Arbeitsleben, im Familienleben oder aufgrund früherer Traumata wirkt.
In unserem Gehirn kann man zwei prinzipielle Vorgehensweisen oder Systeme unterscheiden: Das eine System sorgt dafür, dass wir untersuchend, aktiv, impulsiv und neugierig sind; wir bewegen uns nach außen. Das andere System sorgt dafür, dass wir Abstand halten, uns zurückziehen, abwarten und aufmerksam beobachten, was auf uns zukommt. Das erste System dient unserem Bedürfnis, Neues kennenzulernen, es sorgt dafür, dass wir die guten Dinge im Leben suchen, wie gesunde Nahrung und zwischenmenschliche Beziehungen. Das andere System hilft uns, uns vor möglichenGefahren zu schützen. Oder, wie es Laotse vor Tausenden von Jahren formulierte:
Die Trübung wird durch Versenkung geklärt,
was ruht wird aufgewirbelt durch Erregung
.
Ein hochsensibler Mensch hat beide Systeme nötig. Das ist nicht anders als bei anderen Menschen. Doch bei Hochsensiblen sind die Systeme grundsätzlich empfindlicher eingestellt, können aktiver und intensiver sein – sowohl das untersuchende und aktive System wie auch das abwartende System. Im Allgemeinen wird ein Hochsensibler durch beide Systeme stärker beschäftigt. Für ihn passiert in derselben Zeit mehr als für andere, und er kann deshalb schneller übersättigt oder überreizt sein.
Jeder Mensch muss für sich selbst das Gleichgewicht zwischen „zu viel“ und „zu wenig“ finden. Es zeigt sich, dass Hochsensible dafür mehr Zeit benötigen. Meist werden sie durch zu viele Reize überflutet und müssen sich schon etwas einfallen lassen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Häufig geschieht die Reizanhäufung unbemerkt.
Das Zusammentreffen verschiedener Faktoren kann eine Reizüberflutung verursachen. Ein junger Mann hatte beispielsweise ein schwieriges Telefongespräch mit seiner Mutter, während von draußen erheblicher Straßenbaulärm ins Zimmer dröhnte. Da der
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