Leben ohne Krankheit: »Einer der besten Mediziner Amerikas lehrt ein radikal neues Denken über unsere Gesundheit.« Al Gore (German Edition)
Armstrong).
Ich möchte damit sagen, dass man in der Medizin keine Bedenken haben soll, Zufallsentdeckungen zu nutzen und mitunter frustrierende Versuch-und-Irrtum-Experimente durchzuhalten. Im Gegenteil – wir sollten mehr Vertrauen in experimentelle Therapien haben und auch Risiken eingehen, wenn sie uns mehr Daten verschaffen. Wenn wir uns wirklich um unsere Gesundheit kümmern wollen, müssen wir medizinische Studien kritisch betrachten und gleichzeitig bereit sein, unseren Horizont zu erweitern, wenn es darum geht, die Arbeitsweise des Körpers zu verstehen; besonders, wenn er ein Verhalten zeigt, das anscheinend bisheriger Logik und Verständnis zuwiderläuft.
Wir Mediziner sind Experten darin, negative Resultate zu melden. Wir sollten endlich anfangen, auch positive zu vermerken. Jedes Mal, wenn einer meiner Patienten ausgeprägt negativ auf eine Medikation reagiert, muss ich das der FDA melden. Aber eine ausgeprägt positive Reaktion muss ich nicht berichten! Wir brauchen unbedingt eine Datensammlung über Behandlungen und Ergebnisse bei so vielen Krankheiten wie möglich, damit wir aus unseren Fehlern wie auch aus unseren Erfolgen lernen können.
Aus Lance Armstrongs Geschichte lassen sich noch zwei weitere Lehren ziehen. Erstens hätte Armstrong auf die frühen Warnzeichen achten sollen; das hätte ihm den größten Teil seines Kampfs ersparen können. Bei Krebsleiden sind Vorbeugung und Früherkennung entscheidend für die Überlebenschancen. Zweitens akzeptierte er seine Niederlage und den damaligen Forschungsstand in Bezug auf seine Krankheit nicht, informierte sich selbst und wurde sein eigener Anwalt für eine auf ihn persönlich zugeschnittene Therapie – wenn auch eine verzweifelte –, die das Potenzial hatte, seinen Gesundheitszustand zu verändern. Das rettete ihm das Leben.
Grauzonen
Mein Fachgebiet ist besonders von einem atemberaubenden Spektrum an Grauzonen geprägt. Es scheint zunächst nicht verwunderlich, dass ein Tumor von ursprünglich vier Zentimetern Durchmesser, der nach vier Monaten auf sechs Zentimeter angewachsen ist, als resistent bezeichnet wird – er widersteht den Medikamenten, die ich dem Patienten gegeben habe und ist jetzt größer als zuvor. Ohne meine Therapie wäre er aber vielleicht schon zwölf Zentimeter groß. Mit unseren gegenwärtigen technischen Mitteln können wir es nicht sicher sagen. Die meisten Studien über resistente Karzinome bedienen sich dieser Messgrößen, was die Ergebnisse schwer verständlich macht. Echte Resistenz zu definieren wird unmöglich. Die Medizin kennt inzwischen nur noch Schwarz und Weiß – ja oder nein. In Wirklichkeit ist sie aber eine gigantische Grauzone, weil wir nicht alle Daten haben, die wir bräuchten. In vielen Fällen sehen wir uns nur zwei Punkte an, »vorher« und »nachher«, und erfassen nicht das ganze Bild. Leider ist unser einziger Maßstab für Erfolg in meinem Fachgebiet das Schrumpfen des Tumors. Sein Wachstum bloß zu verlangsamen, gilt gewöhnlich nicht als Erfolg, aber ich finde, auch das sollte zählen – ein langsamer wachsender Tumor erhöht schließlich die Lebenserwartung des Patienten.
Nehmen wir folgendes Beispiel: Im Jahr 2003 rückte das Medikament Gefitinib (im Handel als IRESSA ® ), das nachgewiesenermaßen der Ausbreitung von Lungenkarzinomen entgegenwirkt, ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als es in die dritte Phase einer klinischen Versuchsreihe eintrat. Die Patienten, die mit diesem Mittel behandelt wurden, zeigten eine Besserung ihrer Symptome, aber ihre Tumore schrumpften nicht. Allein das schmälerte schon die positiven Resultate der Studie, und es kam noch eine fehlende Placebo-Kontrollgruppe dazu. Zum Glück wurde im Jahr darauf ein ähnliches Medikament namens Erlotinib (Handelsname Tarceva ® ) getestet, und diesmal umfasste die Studie auch eine Kontrollgruppe, die ein Placebo erhielt. Auch hier konnten die Forscher zeigen, dass das Medikament den meisten Lungenkrebspatienten ein längeres Leben bescherte, auch wenn ihre Tumore nicht schrumpften. Diese erhöhte Lebenserwartung war beweisbar, da die Patienten der Kontrollgruppe sehr viel früher starben. Es wäre schön, wenn man mehr solche Studien durchführen könnte, ohne dabei jedes Mal eine Placebo-Kontrollgruppe »zu opfern«.
Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel für die Komplexität des menschlichen Körpers. Wenn man Brustkrebspatientinnen alle drei Wochen eine Dosis Paclitaxel (Handelsname TAXOL ® ) verordnet, wie es
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