Leben ohne Krankheit: »Einer der besten Mediziner Amerikas lehrt ein radikal neues Denken über unsere Gesundheit.« Al Gore (German Edition)
war. Ärzte wie Stark-Vance und ich haben die Befugnis, Avastin und jedes andere verfügbare Medikament nach eigenem Ermessen auch für nicht genehmigte Therapien zu verschreiben (das wird als Off-Label-Verschreibung bezeichnet). Bis zu 75 Prozent aller Krebsmedikationen sind »off-Label«. Einige von uns Ärzten geben offen zu, dass sie einfach nicht die Zeit haben, auf eine wasserdichte Studie zu warten, während der Patient stirbt. Wirklich seltsam am Einsatz von Avastin ® gegen einen Hirntumor war aber, dass dieses Mittel die Blut-Hirn-Schranke gar nicht passieren kann – das Wirkstoffmolekül ist zu groß dafür. Wie konnte es also gegen einen Hirntumor wirken? Wie sich herausstellte, verändert es den Hirninnendruck und damit die Umweltbedingungen des Karzinoms. (Avastin ® ist übrigens ein wohldokumentierter Bestandteil bei der Behandlung zur Änderung des Drucks in Organen.) Lucys Tumor wuchs nur unter hohem Druck, und Avastin ® konnte zwar das Karzinom selbst nicht bekämpfen, senkte aber den Innendruck des Hirns und verlangsamte damit seine Ausbreitung. Hier haben wir erneut ein Beispiel dafür, dass die Saat nicht so gut aufgeht, wenn man den Boden verändert. In einer Studie der Duke University, bei der Avastin ® an Hirnkarzinompatienten wie Lucy getestet wurde, reagierten 63 Prozent der Teilnehmer positiv auf das Mittel – das Tumorwachstum wurde dramatisch abgebremst, die Lebenserwartung der Patienten erhöhte sich beträchtlich. Im Mai 2009 genehmigte dann die Food and Drug Administration den Einsatz von Avastin ® bei Hirntumoren wie dem von Lucy, die auf andere Therapien nicht ansprechen.
Fälle wie dieser illustrieren nicht nur den Einfluss der Umweltbedingungen auf das Wachstum und sicher auch auf die Entstehung von Karzinomen, sondern auch die große Rolle zufällig entdeckter Nebeneffekte. Ärzte wie ich gelangen durch die gute alte Methode von Versuch und Irrtum zu unseren Ergebnissen und können daher nicht immer erklären, wie etwas funktioniert. Ich kann nicht immer sagen, warum ein bestimmtes Mittel anschlägt oder wie es wirkt, sondern oft nur, dass es bewiesenermaßen wirkt. Außerdem kann ich nicht immer genau sagen, welche Therapie für Sie persönlich am besten ist.
Die Geschichte der Genesung des ehemaligen Radsportprofis Lance Armstrong ist nicht exemplarischer als andere ähnliche Fälle in meinem Fachgebiet. Sie ist aber typisch für diese neue Denkweise beim Herangehen an die Krankheit. Die Medizin weiß immer noch nicht, warum die Kombination von Medikamenten, die Armstrong einnahm, seinen Krebs heilte. Offen gesagt wissen die Ärzte – auch ich – nicht einmal, warum diese Medikamente überhaupt gegen Krebs wirken! Wer mit Lance Armstrongs Geschichte vertraut ist, weiß, dass er im Herbst 1996 schonend erklärt bekam, er solle jetzt lieber zu Hause bleiben und so viel Zeit wie noch möglich mit seiner Familie verbringen, nachdem sein Hodenkrebs Metastasen im Gehirn, in der Lunge und im Unterleib gebildet hatte. Alle behandelnden Ärzte waren sich einig, dass Armstrong im Sterben liege und alle weiteren Therapieversuche sinnlos und fast schon absurd seien. Aber Armstrong nahm dieses traurige Schicksal nicht einfach hin. Durch hartnäckige eigene Recherchen gelang es ihm, einen letzten Strohhalm aufzutreiben, an den er sich klammern konnte. Bald darauf fand er sich als Teilnehmer eines ungewöhnlichen dreimonatigen klinischen Versuchs unter der Leitung von Lawrence Einhorn und Craig Nichols wieder. Diese beiden neugierigen Forscher versuchten, Krebspatienten mit hohen Dosen eines Medikaments auf der Basis von Platin zu behandeln, demselben Edelmetall, das auch zu Schmuckstücken und Eheringen verarbeitet wird. Und es funktionierte. 30 Monate nach Therapiebeginn war Lance Armstrong den Statistiken der Mediziner entkommen. Viele der Medikamente, die ich heute einsetze und deren Wirkung nachgewiesen ist, sind nur zufällig als wirksam erkannt worden. Das platinbasierte Mittel, das entscheidend für Lances Therapie war, hatte sich Anfang der 1970er-Jahre als wirksam in der Krebsbehandlung entpuppt, als Barnett Rosenberg die Effekte elektromagnetischer Strahlung auf das Zellwachstum von Bakterien studierte und dabei zufällig Platinelektroden einsetzte. Er bemerkte, dass die Bakterien starke Strukturveränderungen durchmachten, wenn sie dem Platinderivat ausgesetzt waren, das bei dem Experiment entstand (dieses Derivat war Cisplatin – dasselbe Mittel wie bei Lance
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