Leben statt kleben
Plastiktüten vielleicht oder Stoffbeutel? Horten Sie leere Schachteln, Info-Blätter?
Papier steht für Dauerhaftigkeit, verlässliches Schwarz auf Weiß. Konkrete Stabilität zum Dranfestklammern, statt der wild schwappenden, unkontrollierbar unermesslichen Internetfluten. Papier können wir die Hand halten. Ausschnitt und Ausdruck haben etwas Beruhigendes in ihrer Endlichkeit. Sie zerlegen die unablässig fließende Information in kleine weiße Atempausen. Bis die Übersicht wieder untergeht in der Unersättlichkeit der Drucker und Kopierer. Am Rattern gehalten von unserer Unersättlichkeit nach mehr: Information, Inspiration, Absicherung... Weshalb wir bei Papierclutter zuerst an herumfliegende Zettel oder Rechnungen denken. Aber fangen wir bei den gewichtigsten Kandidaten an.
Wir haben Ehrfurcht vor Büchern. Als die ersten Gelehrten handschriftliche Abschriften verfassten, übertrugen sie heiliges Wissen. In Bücherverbrennungen symbolisieren sie Meinungsfreiheit, das Recht auf Leben. – Ein Vorschlag, um unsere Beziehung zu Büchern zu demystifizieren: eines probeweise in den Müll werfen. Nur ganz kurz! Sie dürfen es dann sofort wieder rausretten. Sind Sie empört zusammengezuckt? Ein Buch ist bedrucktes Papier, genau wie ein Werbeprospekt. Nur weil etwas gebunden ist, muss es nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Aber Bücher werden zu Freunden, immer da, um uns zu inspirieren oder abzulenken. Sie ersetzen Beziehungen. Wollen Sie eine quirlige Bibliothek zum immer mal wieder Reinlesen und Verleihen oder Buchrücken als dreidimensionales Statusgemälde?
Erst wenn wir alte Gefährten ziehen lassen, schaffen wir Platz für neue Ideen. Manchmal vergessen wir, dass kein einziges unserer Bücher uns gehört. Alle nur geliehen, aus der Bücherei des Lebens. – Schluss mit der Regalhaltung, lasst die Bücher frei! Die besten inspirieren uns sowieso, sie wegzulegen und loszustrolchen, mitten ins Leben hinein. (– Warum sitzen Sie noch?!)
Wie viel Lebenszeit müssten wir investieren, um alle Zeitungsausschnitte einzuordnen? Oder erstmal auszuschneiden? Je größer die Berge, desto größer die Last. Entsorgen wir unser fahruntüchtiges Papierfloß, auf dem wir der Vergänglichkeit und dem Geruch der Verwesung davonschippern wollen. Recycelt rettet es Bäumen das Leben! Und wenn wir schon mal dabei sind: Wie viele Stunden würde es kosten, noch (einmal!) alle Tonträger durchzuhören, Filme anzuschauen? Jeden Tag kommen neue auf den Markt. Warum in alten Liebesbriefen schmökern, wenn wir in der gleichen Zeit brandaktuelle verfassen und gegenwärtig schlagende Herzen entzücken könnten? Nur die Highlights alter Karten und Briefe aufbewahren, im Vertrauen und der Vorfreude darauf, dass neue ins Haus flattern. Beim Durchsortieren vergilbter Unterlagen oder Schulhefte lohnt es, den Selbstgesprächen im Kopf besonders andächtig zu lauschen. Tunwörter, immer in der Vergangenheitsform: „Das war eine gute Zeit. Da habe ich alles verstanden. Das war ein inspirierender Vortrag.“ Wie wär’s mit: „Das ist eine gute Zeit. Momentan macht vieles Sinn. Ich gehe morgen auf einen Vortrag. Vielleicht werde ich bald selbst einen halten.“
Manchmal lesen wir gerne Klatsch, wahrscheinlich weil wir von Natur aus so mitfühlende Wesen sind, die gerne am Schicksal anderer teilnehmen. Vielleicht auch, weil uns Berichte über Kümmernisse anderer einen Energieschub im Sinne eines seltsamen Machtgewinns verschaffen. „Die haben genauso Beziehungs-oder Selbstbewusstseinsprobleme wie ich.“ Tauschen wir das kurze High gegen eine inspirierende Biografie und laden uns auf mit länger haltbarer energetischer Inspiration. Blinder Passagier im eigenen Leben zu sein, befreit temporär von lästigen Entscheidungen. Aber es ist so viel spannender, sich in den Fahrersitz zu schnallen und Geschwindigkeit und Richtung selbst zu bestimmen.
Quälen Sie sich gern pflichtbewusst durch Lektüre? „Ich habe dieses Buch geschenkt bekommen / gekauft / angefangen, also muss ich es auch zu Ende lesen. Außerdem sollte man das gelesen haben“. Ach so.– Nieder mit der Fachliteratur, ein Hoch auf die Freiheit! Auf zum schuldfreien Schmökern im Nichtverordneten! Die nächste Ausgabe der Zeitschrift kommt ins Haus geflattert, obwohl wir die letzten noch nicht durchgeblättert haben. Die Stapel senden ihre Morsezeichen. „Hallo!? Wir wollen dich unterhalten, informieren!! Keine Zeit? Klar. Dann schau uns nur mal kurz durch. Falls du was
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