Leben statt kleben
Leben ist ein Geschenk. Wir dürfen jeden neuen Tag ehrfürchtig aus dem Morgenrot wickeln. Existieren und funktionieren sind ausverkauft. Jetzt neu: Auskosten, untertauchen, nach Luft schnappen, paddeln, Purzelbäume schlagen. Sich beschwipsen an Licht und Düften. Freudensprünge machen, umfallen, wiederauferstehen.
Wir haben die Wahl, uns darüber aufzuregen, dass der Zug wieder zehn Minuten verspätet ist. Oder uns zu freuen, wenn er dann kommt. Weil wir anderswo auf dem Planeten glücklich wären, aufs Dach eines alle sieben Stunden aufkreuzenden Busses zu klettern und uns neben die Hühner zu zwängen. Weil sonst kein Platz mehr frei ist. Und der nächste Bus erst morgen kommt. Vielleicht. Ab und an mal von Automatik und Durchzug in den Dankbarkeitsgang runterzuschalten ist sehr gut fürs Immunsystem. Dieses Gefühl ist belebender als ein Energy Drink, dazu noch gratis. Freude lässt sich kultivieren.
Möchten Sie ein Dankbarkeitstagebuch anfangen? Oder einfach nur am Abend vor dem Einschlafen freihändig all die Erlebnisse auflisten, die Ihr Herz weit aufmachen? Die Augen der Seele offen halten, mehr als nur ein paar kurze Momente lang, ehe wir wieder ins Vollzeit-Übersehen abrutschen. Die Welt braucht unsere lachenden Lippen und eine schiefe Weltsicht, um sie ein bisschen aus der Bahn ins Gleichgewicht zu rücken.
Wir haben die Freiheit, uns in Sicherheit einzusperren. Oder uns jeden Tag neu zu erfinden, Verletzung und Misserfolg zu riskieren und zu überwinden. Jeder Moment ist der potentielle neue Lebensabschnitt, an dem wir die Diplome abheften und persönliche Stärken zum Beruf machen können. Falls es den Job nicht gibt, dann erfinden wir ihn eben. Handyverkauf und Webdesign sind nicht gerade jahrhundertealte Traditionsberufe.
Zur Vorbeugung gegen Abstumpfungssymptome verschreiben wir uns, Gewohntes umzugraben, Neugier zu kolonisieren. Erzählen Sie Ihrem außerirdischen Freund von einem typischen Tag. Ich stehe auf (was ist das?), steige in den Zug (in den was?) und fahre in die Stadt (eine?). Die Seele nährt sich gerne an Winzigkeiten. Lächeln statt Stirnrunzeln während wir vor dem Computer sitzen – das Gesicht spiegelt alle Emotionen, die sich darauf abzeichnen, nach innen zurück. Wir können uns jederzeit anschließen an die Batterien des sinnlichen Genießens. Die Sterne glitzern, unbeirrt von unserem sturen Wegsehen. Sie hören nicht auf zu leuchten, nur weil wir mal wieder lieber in die Röhre gucken oder Pflichtlisten oder Vergangenheitsfilme abspulen. Es lohnt sich, ab und an zu drastischeren Mitteln zu greifen, um die spektakulären Spektakel um uns herum nicht permanent auszublenden. Uns daran zu erinnern, wie viel Unselbstverständliches wir als selbstverständlich abtun. – Stellen Sie sich vor, Sie bekämen die Diagnose, in drei Monaten Ihr Augenlicht zu verlieren. Nach dem Unfall nie wieder auf den Beinen zu stehen. Warum fällt es uns so selten auf, dass wir Treppen steigen können, Brücken überqueren? Musik vernehmen, auch wenn sie gar nicht aus dem Radio kommt?
Stellen wir uns vor, etwas letztmalig zu erleben. Was immer als nächstes passiert, für uns gibt es das entwertende nächste Mal nicht mehr. Ein Stück eiskalte Melone essen. Sich von der Sonne übers Gesicht streicheln lassen, vom Wind durch die Haare wuscheln. Wolkenkino gucken. Im gelassenen Vertrauen darauf, dass ungeplante Ereignisse spirituelle Richtungsweisung sind.
VII Unbeschwert bleiben
Das Wort zum Kaufen
Wie verhindern, dass nach einer erfolgreichen Sortieraktion alles bald wieder voll ist? Falls sich die neue „Leere“ noch zu ungewohnt oder beängstigend anfühlt, werden wir sie wieder füllen. Haben wir Geduld mit uns selbst, aber unterziehen alle potentiellen neuen Mitbewohner einem Bewerbungsgespräch. Darf dieses angebliche Schnäppchen wirklich permanent bei mir einziehen? Wenn ja, dann gilt die goldene Regel: etwas Neues rein – etwas Altes raus. Glück ist im Sein, auch während wir uns im Haben verheddern. Ein Mann schlendert im Urlaub am Hafen entlang und sieht einen Fischer auf seinem Boot in der Sonne schaukeln. Kappe ins Gesicht gezogen, wohliges Räkeln. Sie beginnen zu plaudern. „Na, wie war der Fang heute?” „Ausgezeichnet, danke.” „Fahren Sie nicht nochmal raus?” „Warum?” „Dann könnten Sie noch mehr fangen, mehr verkaufen und mehr verdienen.” „Und?” „Dann könnten Sie sich mehr leisten. Alles machen, was Sie gerne tun!” „– In aller Ruhe in der
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