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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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nach meinen Prüfungen benoteten. Meine unvorhergesehenen Antworten, meine abwegigen Einfalle und meine irrationalen Erfindungen retteten mich. Als aber das fünfte Jahr mit Schrecken zu Ende ging und ich mich nicht mehr in der Lage sah, meine Wissenslücken zu stopfen, wurden mir meine Grenzen bewusst. Die Oberschule war mir bis dahin ein mit Wundern gepflasterter Weg gewesen, doch mein Herz warnte mich, dass sich im letzten Schuljahr eine unüberwindbare Mauer vor mir auftürmen würde. Die ungeschminkte Wahrheit war, dass es mir damals bereits an Willen, an Berufung, an Ordnung, an Geld und an Orthografie mangelte, um eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Besser gesagt: Die Jahre flogen dahin, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, und es verging noch viel Zeit, bis mir klar wurde, dass auch dieser Zustand der Niederlage förderlich war, denn es gibt nichts in dieser oder einer anderen Welt, das einem Schriftsteller nicht nützlich sein kann.
    Dem Land ging es nicht besser. In die Enge getrieben von der scharfen Opposition der konservativen Reaktion, dankte Präsident Alfonso López Pumarejo am 31. Juli 1945 ab. Sein Nachfolger war Alberto Lleras Camargo, vom Kongress designiert, das letzte Jahr der Amtsperiode zu Ende zu führen. Schon in seiner Antrittsrede, die er mit sedierender Stimme in seiner stilsicheren Prosa hielt, ging Lleras die illusorische Aufgabe an, die Gemüter im Lande bis zur Wahl eines neuen Amtsinhabers zu beruhigen.
    Durch die Vermittlung von Monseñor López Lleras, einem Vetter des neuen Präsidenten, wurde dem Rektor des Liceo eine Sonderaudienz gewährt, auf der er um Unterstützung der Regierung für eine Studienfahrt an die Atlantikküste bitten wollte. Ich weiß auch nicht, warum der Rektor mich ausersah, ihn zu begleiten, vorausgesetzt, dass ich meine zerzauste Mähne und den wilden Schnauzbart etwas in Ordnung brächte. Die anderen Erwählten waren Guillermo López Guerra, der mit dem Präsidenten bekannt war, und Álvaro Ruiz Torres, ein Neffe von Laura Victoria, einer berühmten Dichterin kühner Verse aus der Generation der Los Nuevos, zu der Lleras Camargo gehörte. Ich hatte keine Alternative: Am Samstagabend, während Guillermo Granados im Schlafsaal einen Roman vorlas, der nichts mit meinem Fall zu tun hatte, verpasste mir ein Schüler der dritten Klasse und ehemaliger Friseurlehrling einen Rekrutenschnitt und schnitzte mir einen Tangoschnurrbart. Den Rest der Woche über ertrug ich das Gehänsel von Internen und Externen über meinen neuen Stil. Der bloße Gedanke, das Präsidentenpalais zu betreten, ließ mir das Blut gefrieren, aber das war eine Fehlmeldung des Herzens, denn der einzige Hinweis auf die Mysterien der Macht, den wir dort erhielten, war ein himmlisches Schweigen. Nach einer kurzen Wartezeit in einem mit Gobelins und Atlasvorhängen ausgestatteten Vorzimmer führte uns ein Soldat in Uniform in das Büro des Präsidenten.
    Lleras Camargo sah seinen Porträts außergewöhnlich ähnlich. Ich war beeindruckt von seinen dreieckigen Schultern in einem makellosen Anzug aus englischem Gabardine, den vorstehenden Backenknochen, seiner pergamentenen Blässe, den Zähnen eines übermütigen Kindes, die das Entzücken der Karikaturisten waren, den langsamen Gebärden sowie seiner An, die Hand zu geben und einem dabei direkt in die Augen zu blicken. Ich weiß nicht, was für eine Vorstellung ich von Präsidenten hatte, ich meinte jedenfalls, dass nicht alle so waren wie er. Mit der Zeit, als ich ihn schon gut kannte, wurde mir klar, es würde ihm selbst wohl nie bewusst werden, dass er vor allem ein verhinderter Schriftsteller war.
    Nachdem er die Worte des Rektors mit übertriebener Aufmerksamkeit angehört hatte, machte er ein paar Bemerkungen zur Sache, traf aber keine Entscheidung, bevor er nicht die drei Schüler angehört hatte. Das tat er mit der gleichen Aufmerksamkeit, und wir waren geschmeichelt, ebenso respektvoll und freundlich wie der Rektor behandelt zu werden. Die letzten zwei Minuten genügten, um zu der Gewissheit zu gelangen, dass er mehr von der Poesie als von der Flussschifffahrt verstand und dass Erstere ihn zweifellos mehr interessierte.
    Er gewährte uns alles, worum wir gebeten hatten, und versprach außerdem, zur Feier des Jahresabschlusses in vier Monaten ins Liceo zu kommen. Das tat er dann auch, als handele es sich um einen wichtigen Staatsakt, und lachte am meisten von allen über die derbe

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