Leben, um davon zu erzählen
anzufertigen. Diese Fassung war dann etwa vierzig Seiten länger als vorgesehen, aber mir war damals noch nicht bewusst, dass das ein schwer wiegender Makel war. Eins wurde mir bald klar: Ich hänge sklavisch einer perfektionistischen Strenge an, die mich dazu zwingt, im Vorhinein den Umfang eines Buches zu berechnen, die genaue Seitenzahl jedes Kapitels und des Buches insgesamt. Ein einziger deutlicher Fehler in dieser Berechnung zwingt mich dazu, alles noch einmal neu zu bedenken, sogar ein Tippfehler bringt mich in Unruhe, als sei es ein Fehler im schöpferischen Entwurf. Ich dachte damals, dieser absolute Anspruch sei einer besonders strengen Pflichtauffassung geschuldet, doch heute weiß ich, es war einfach Angst, die pure physische Angst.
Wieder einmal ließ ich die Warnung von Don Ramon Vinyes außer Acht und schickte Gustavo Ibarra die vollständige Rohfassung noch ohne Titel, als ich sie für beendet hielt. Zwei Tage später lud er mich zu sich ein. Er saß auf der Terrasse zum Meer in einem Schaukelstuhl aus Rohrgeflecht, sonnengebräunt, entspannt und in Strandkleidung, und ich war voller Rührung ob der Zärtlichkeit, mit der er über meine Seiten strich, während er mit mir redete. Ein wirklicher Lehrer, der mir keine Lektion über das Buch erteilte, mir auch nicht sagte, ob er es gut oder schlecht fand, sondern mir die ethischen Implikationen des Romans bewusst machte. Als er zu Ende gesprochen hatte, sah er mich zufrieden an und schloss mit der üblichen Einfachheit:
»Das ist der Mythos von Antigone.«
Er sah mir an, dass ich nicht folgen konnte, holte aus seinem Regal den Sophokles-Band und las mir vor, was er meinte. Der tragische Konflikt in meinem Roman war im Kern tatsächlich der gleiche wie der Antigones, der ein Befehl König Kreons, ihres Onkels, verbot, die Leiche ihres Bruders Polyneikes zu bestatten. Ich hatte Ödipus auf Kolonos in dem Band gelesen, den mir Gustavo, als wir uns kennen lernten, geschenkt hatte, erinnerte mich jedoch nicht mehr so gut an den Antigone-Mythos, als dass ich ihn im Drama der Bananenregion hätte rekonstruieren können, auch waren mir die emotionalen Ähnlichkeiten bis dahin nicht aufgefallen. Mein Herz war erschüttert vor Glück und Enttäuschung. In jener Nacht las ich das Werk mit einer seltsamen Mischung aus Stolz und Schmerz. Stolz, weil ich guten Glaubens mit einem so großen Dichter übereingestimmt hatte, und Schmerz wegen der öffentlichen Schande des Plagiats. Nach einer tRuben Woche der Krise entschied ich mich für einige inhaltliche Änderungen, die meinen guten Glauben belegen sollten, merkte dabei aber noch nicht, welch übermenschliche Hoffart darin lag, ein eigenes Buch zu verändern, damit es nicht an Sophokles erinnere. Am Ende resignierte ich, fühlte mich aber moralisch berechtigt, einen Satz von Sophokles als ehrerbietiges Motto zu verwenden, was ich dann auch tat.
Der Umzug nach Cartagena bewahrte uns gerade noch rechtzeitig vor dem ernsten und bedrohlichen Verfall Sucres, doch die meisten unserer Berechnungen erwiesen sich als illusorisch, sowohl wegen der knappen Einkünfte als auch wegen der Größe der Familie. Meine Mutter pflegte zu sagen, dass die Kinder der Armen mehr essen und schneller wachsen als die der Reichen, und führte als Beweis ihre Familie an. Alle Gehälter zusammen reichten nicht, um ohne böse Überraschungen zu leben.
Die Zeit sorgte für das Übrige. Jaime wurde - durch eine weitere Familienverschwörung - Bauingenieur und hatte damit in einer Familie, für die ein Diplom so wertvoll wie ein Adelsprädikat war, als Einziger einen akademischen Abschluss. Luis Enrique wurde Lehrer für Buchführung, und Gustave machte eine Ausbildung als Topograf. Und beide hörten nicht auf, Gitarristen und Sänger von Auftragsserenaden zu sein. Eligio - Yiyo - versetzte uns seit seiner Kindheit mit seinem offensichtlichen literarischen Talent und seinem eigenwilligen Charakter in Erstaunen, von dem er uns als Fünfjähriger eine frühreife Probe gegeben hatte, als man ihn bei dem Versuch ertappte, einen Kleiderschrank in Brand zu setzen, weil er gerne sehen wollte, wie die Feuerwehrleute bei uns im Haus das Feuer löschten. Später einmal, als er und sein Bruder Cuqui von älteren Mitschülern Marihuana angeboten bekamen, lehnte Yiyo erschrocken ab, Cuqui dagegen, der immer neugierig und wagemutig gewesen ist, sog den Rauch tief ein. Jahre später, als er schon ein Schiffbrüchiger im Sumpf der Drogen war, erzählte er mir,
Weitere Kostenlose Bücher