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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Dörfer wuschen Gold und Platin in den Flüssen, während die Männer fischten, und verkauften dann am Samstag den fahrenden Händlern ein Dutzend Fische und vier Gramm Platin für nur drei Pesos.
    All dies geschah in einer Gesellschaft, die für ihren Lerneifer berühmt war. Schulen waren jedoch selten und weit verstreut, so dass die Schüler für den Hin- und Rückweg jeden Tag mehrere Meilen zu Fuß und im Kanu zurücklegen mussten.
    Einige Schulen waren so überfüllt, dass derselbe Raum montags, mittwochs und freitags für die Jungen benutzt wurde, und dienstags, donnerstags und samstags für die Mädchen. Durch die Kraft des Faktischen waren diese Schulen die demokratischsten im ganzen Land, weil der Sohn der Waschfrau, die kaum etwas zu essen hatte, dieselbe Schule besuchte wie der Sohn des Bürgermeisters.
    Nur wenige Kolumbianer wussten damals, dass sich mitten im Herzen des Urwalds von Choco eine der modernsten Städte des Landes befand. Sie hieß Andagoya, lag dort, wo der San Juan und der Condoto zusammenflössen, hatte ein perfekt funktionierendes Telefonsystem, Anlegestege für Schiffe und Motorboote und zudem wunderbare Alleen. Die Häuser, klein und sauber inmitten großer umzäunter Flächen und mit malerischen Holztreppchen vor den Eingängen, schienen in den Rasen gepflanzt zu sein. Im Stadtzentrum gab es ein Kasino, ein Restaurant mit Cabaret und eine Bar, in der importierte Alkoholika zu einem niedrigeren Preis als sonst wo im Land konsumiert wurden. Die Bewohner der Stadt waren Menschen aus aller Welt, die ihr Heimweh vergessen hatten und dort besser als im eigenen Land unter der unumschränkten Gewalt des lokalen Geschäftsführers der Choco Pacifico lebten. Denn Andagoya war im wirklichen Leben Ausland, das sich in Privatbesitz befand; Bagger plünderten die prähistorischen Flüsse aus, und das geförderte Gold und Platin wurde in firmeneigenen Schiffen unkontrolliert über die Mündung des Rio San Juan in alle Welt abtransportiert.
    Das war der Choco, für den wir den Kolumbianern die Augen öffnen wollten, ohne jeden Erfolg, denn als die Nachricht passe war, verfiel alles wieder in seinen alten Trott, und der Choco war weiterhin die bestvergessene Region des Landes. Der Grund dafür ist, so glaube ich, offensichtlich: Kolumbien war immer ein Land mit karibischer Identität, und die Nabelschnur Panama hatte es mit der Welt verbunden. Die gewaltsame Amputation verdammte uns zu dem, was wir heute sind: ein Land mit einer anderen Mentalität, die davon begünstigt wird, dass der Kanal zwischen den beiden Ozeanen nicht uns, sondern den USA gehört.
    Der wöchentliche Redaktionsrhythmus wäre tödlich gewesen, wenn wir uns nicht freitagabends, wenn jeder mit seiner Arbeit fertig war, in der Bar des Hotel Continental auf der anderen Straßenseite zu einer Entspannungsübung versammelt hätten, die sich bis zum Morgengrauen hinzuziehen pflegte. Eduarde Zalamea gab diesen Nächten ihren Namen: die »Kulturellen Freitage«. Für mich war es die einzige Gelegenheit, mit ihm zu reden und über die literarischen Neuigkeiten der Welt auf dem Laufenden zu bleiben, denn er war dank seiner außerordentlichen Lesekapazität immer auf dem letzten Stand. Die Überlebenden jener Runden mit unzähligen geistigen Getränken und unvorhersehbarem Ausgang waren - neben zwei oder drei alten Freunden von Ulises - jene Redakteure, die keine Angst davor hatten, den Schwan bis zum Morgengrauen wieder zum Singen zu bringen.
    Mir war schon lange aufgefallen, dass Zalamea nie irgendeine Bemerkung über meine Glossen gemacht hatte, obwohl ich mich oft von den seinen hatte inspirieren lassen. Als dann aber die Kulturellen Freitage eingeführt wurden, äußerte er dort offen seine Gedanken zu dieser Form. Er gestand, dass er mit dem Ansatz vieler meiner Glossen nicht einverstanden sei, und schlug mir andere vor, aber nicht im Ton eines Chefs, der mit seinem Schüler spricht, sondern von Schriftsteller zu Schriftsteller.
    Ein weiterer häufiger Zufluchtsort, wenige Straßen von El Espectador entfernt, war die Wohnung von Luis Vicens und seiner Frau Nancy, wo wir nach den Vorstellungen des Filmklubs zu mitternächtlichen Treffen zusammenkamen. Vicens war in Paris ein Mitarbeiter von Marcel Colin Reval, dem Chefredakteur der Zeitschrift Cinématographie francaise, gewesen und hatte wegen der Kriege in Europa seine Kinoträume gegen den guten Beruf eines Buchhändlers in Kolumbien eingetauscht. Nancy war eine mit Zauberkünsten

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